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Eine «Panikattacke» und eine Rede unter Tränen – das war der zweite Prozesstag um den Crash vor dem Bözbergtunnel

Was genau im Kopf des Beschuldigten vorging, der am 27. November 2019 mit seinem Porsche in eine stehende Kolonne raste, lässt sich nur vermuten. Insbesondere, weil der Mann aus Montenegro keine Angaben dazu machen kann oder will. «Ich kann mich nicht erinnern», ist der meistprotokollierte Satz aus der anderthalbtägigen Gerichtsverhandlung.

Das plausibelste Szenario, so werten es sowohl die Verteidigung als auch die Anklage, sieht so aus: Der 47-Jährige war in einem psychisch angeschlagenen Zustand, seine Ehefrau hatte ihm vor kurzem eröffnet, dass sie sich eine eigene Wohnung gekauft habe und sich von ihm trennen wolle. Als er mit seinem Porsche auf der Autobahn fährt, sieht er, dass eine Spur gesperrt ist, links vor ihm ein Signalisationsfahrzeug, rechts eine fast stehende Kolonne. Er fasst einen Entschluss, will sich das Leben nehmen. Er drückt aufs Gas und rast über die gesperrte Spur mit 150 km/h auf den Prellbock zu.

Doch einen Wimpernschlag, bevor das Fahrzeug auftrifft, siegt der Überlebenswille: Der Mann reisst das Steuer herum, und so kommt es zur Kollision mit einem Renault. Dieser wird ins Heck eines Anhängers gedrückt und damit regelrecht zerquetscht. Das Perfide: Der Mann, der sich das Leben nehmen wollte, überlebt praktisch unverletzt. Er steigt aus und rennt davon, einige glauben, er will sich in den Gegenverkehr stürzen, um zu vollziehen, was ihm soeben misslungen ist. Das Ehepaar und ein weiterer Mann, die im Renault sassen, sind dagegen auf der Stelle tot.

Diese Stellen sind rund um die Uhr für Menschen in suizidalen Krisen und ihr Umfeld da. Vertraulich und gratis:

– Die Dargebotene Hand: Gespräch und Beratung per Telefon, E-Mail und Chat auf www.143.ch und Kurzwahlnummer 143.

– Beratung + Hilfe 147: Beratung für Kinder und Jugendliche von Pro Juventute über Telefon, SMS, Chat und E-Mail auf www.147.ch und Kurzwahlnummer 147.

– Weitere Adressen: www.reden-kann-retten.ch für Beratungsangebote in allen Kantonen und www.trauernetz.ch für Hinterbliebene nach einem Suizid.

Wut oder Selbsthass?

Eine weitere Theorie haben die beiden Opferanwälte: Sie glauben nicht so recht an die Suizidabsicht des Beschuldigten, die dieser selbst auch vehement bestreitet. Sie vermuten, im Telefonat, das der Beschuldigte noch während der Fahrt mit seiner Frau geführt hatte, hätten sich die beiden um Geld gestritten, der Mann habe dann aus lauter Wut das Gaspedal durchgetreten.

Heute Dienstag standen die Plädoyers der Anwälte auf dem Programm, doch der Tag begann mit einer skurrilen Situation: Während Gerichtspräsident Sandro Rossi einen Entscheid des Gerichts erläutert, wird er mehrmals vom Beschuldigten unterbrochen. Dieser beschwert sich, dass er kein Deutsch könne und deshalb nichts verstehe. Sein Anwalt versucht, ihn zu beruhigen, und erklärt schliesslich dem Gericht, sein Mandant müsse kurz raus. Es handle sich um eine Art Panikattacke. Die herbeigerufenen Ärzte befinden jedoch, der Beschuldigte sei verhandlungsfähig und auch der Antrag auf eine Verschiebung des Prozesses wird abgelehnt.

«Meine Mutter war wie eine Sonne»

Opferanwalt Martin Lutz findet dann in seinem Plädoyer klare Worte: «Ich wünsche mir, dass Sie kein Verständnis für diese Tat haben, denn es gibt nichts, für das man Verständnis haben müsste», erklärt er dem Gericht.

Doch die eindrücklichste Rede hält an diesem Morgen ein Sohn des verstorbenen Ehepaares, der sich auf eigene Bitte äussern durfte: «Unsere Eltern waren nicht nur Mutter und Vater, es waren auch Freunde. Meine Mutter war wie eine Sonne, freundlich, auch gegenüber Fremden. Mein Vater war wie ein Fels, er hat allen geholfen.» Dieser habe sein Leben lang gearbeitet, sogar eine Operation, die er wenige Wochen vor seinem Tod hatte, legte er auf seine Ferien. «Wir sind tagtäglich mit unseren Eltern zusammen gewesen. Dieser Mann hat uns das Herz herausgerissen, unser Leben versaut. Ich kann keine Sekunde mehr atmen, ohne an unsere Eltern zu denken.» Mit tränenerstickter Stimme berichtet er von der Trauer, die in seiner Familie herrscht:

«Es ist ein grausames Schicksal, ich wünsche das niemandem.»

Wie viel Schuld trifft den Angeklagten?

In den Reden des Verteidigers, des Staats- und der Opferanwälte ging es hauptsächlich um die Frage, wie viel Schuld dem Angeklagten zugemessen werden kann. War es ihm egal, dass bei seinem Vorhaben andere Leute sterben oder Schaden nehmen? Nahm er dies billigend in Kauf? Oder hatte er seine Umwelt völlig ausgeblendet und dachte nur an sich, als er auf den Prellbock zuraste?

Das Gericht wird bis morgen entscheiden, wie stark es die Argumente gewichtet. Die Staatsanwaltschaft beantragt eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren, eine vollzugsbegleitende ambulante Massnahme zur Behandlung der psychischen Erkrankung und eine Landesverweisung von zehn Jahren. Die Verteidigung beantragt eine bedingte Freiheitsstrafe von 20 Monaten. Auf eine Landesverweisung sowie auf eine ambulante Massnahme sei zu verzichten. Die Urteilseröffnung ist auf 16.30 Uhr angesetzt.