
Endlich nicht mehr warten: Diese Tibeterin darf nach langem Kampf in der Schweiz bleiben
Choeying Dekyitsang strahlt. Der Grund für ihre Freude ist 8,5 Zentimeter lang, 5,4 Zentimeter breit und einen Millimeter dick. Eine Karte aus hartem Plastik. Ihr Ausländerausweis. Aufenthaltsbewilligung B. B wie bleiben.
In der Schweiz bleiben. Am 9. Januar hat sie es erfahren. Sie war in Aarau in der Schule für unbegleitete minderjährige Asylsuchende, hatte gerade Mittagspause, als ihr Deutsch- und Mathematiklehrer Benno Straumann sie anrief und ihr sagte, dass das Staatssekretariat für Migration ihr Härtefallgesuch gutgeheissen habe (siehe Box). «Ich dachte, ich träume», sagt sie. Danach habe sie eine Woche nicht schlafen können. «Ich weiss nicht warum, wahrscheinlich aus Freude. Meine Gedanken waren ganz durcheinander. Ich konnte es nicht richtig glauben.»
Das Härtefallgesuch war Choeying Dekyitsangs letzte Hoffnung auf ein legales Leben in der Schweiz. Daran klammerte sie sich all die Jahre fest. Und es waren viele Jahre im Vergleich zur Dauer ihres bisherigen Lebens. Am 21. August 2013 reiste die Tibeterin in die Schweiz ein und stellte im Empfangs- und Verfahrenszentrum Kreuzlingen ein Asylgesuch.
Damals war sie 17 Jahre alt. Ein Jahr später kam der Negativentscheid. Choeying Dekyitsang hätte die Schweiz im Januar 2015 verlassen müssen. Das Staatssekretariat für Migration glaubte ihr nicht, dass sie vor ihrer Flucht in China gelebt hatte. Stattdessen ging die Behörde davon aus, dass sie in einem anderen, für Tibeter sicheren Land aufgewachsen war, in welches sie zurückreisen könnte. Welches Land das sein sollte, liess der Bund offen. Es sei der jungen Frau aber zuzumuten, die Reisepapiere zu beschaffen.
Mit einem Fuss im Gefängnis
Das hat Choeying Dekyitsang mit Unterstützung von Benno Straumann versucht. Mehrmals. Bei der nepalesischen und der indischen Botschaft. Antwort hat sie nie erhalten. Sie ist nicht die Einzige. In einem Brief ans Staatssekretariat für Migration schrieb die Tibetische Sans-Papiers-Gesellschaft Schweiz bereits im August 2017, zahlreiche Asylbewerber hätten versucht, Kontakt mit der indischen und nepalesischen Botschaft aufzunehmen, was jedoch unmöglich sei. Ohne gültige Papiere wiederum ist es unmöglich, auszureisen oder jemanden aus der Schweiz wegzuweisen. Für die betroffenen Menschen eine ausweglose Situation.
Wie viele andere Tibeterinnen und Tibeter ist auch Choeying Dekyitsang in der Schweiz geblieben. Sie ist geblieben, obwohl sie spürte, dass sie nicht erwünscht war. Die Behörden erhöhten den Druck schrittweise. Zuerst machten sie die junge Frau darauf aufmerksam, dass man sie auch unter Zwang zurückschaffen könne.
Dann kam die Verfügung, dass sie den Kanton Aargau nicht verlassen darf. Schliesslich folgten mehrere Strafbefehle. Nicht weil sie gestohlen oder geprügelt hätte, sondern weil sie immer noch hier war, obwohl sie die Schweiz längst hätte verlassen müssen.
Ein solcher Strafbefehl war der Grund, weshalb die AZ im Jahr 2016 zum ersten Mal über die junge Frau berichtete. Ihr drohte eine 30-tägige Ersatzfreiheitsstrafe, weil sie eine Busse von 900 Franken nicht bezahlen konnte. Benno Straumann versuchte, eine Gefängnisstrafe zu verhindern, indem er beim Kanton ein Begnadigungsgesuch einreichte.
Im Mai 2018 entschied der Grosse Rat, mit nur zwei Stimmen Unterschied, Choeying Dekyitsang nicht zu begnadigen. Die Fraktionen der FDP und der SVP stimmten damals geschlossen dagegen. Der Monat hinter Gittern ist ihr nur erspart geblieben, weil Benno Straumann und seine Frau die Busse bezahlten, «um dem Aargau die Schande zu ersparen, eine in jeder Hinsicht unschuldige Frau ins Gefängnis zu stecken», wie er damals sagte.
Es war nicht die einzige Gefängnisstrafe, die der jungen Frau drohte. Im März 2018 befasste sich das Bezirksgericht Kulm mit ihrem Fall. Choeying Dekyitsang hatte sich zusammen mit ihrem Anwalt Markus Leimbacher gegen einen Strafbefehl gewehrt. Die Staatsanwaltschaft wollte sie 90 Tage ins Gefängnis stecken, weil sie eine unbedingte Geldstrafe nicht bezahlen konnte.
Wieder ging es um illegalen Aufenthalt. An der Verhandlung zeigte sich, unter welchem Stress die junge Frau stand. In ihrem letzten Wort sagte sie, sie sei dankbar, dass sie hier sein könne, in die Schule gehen und die Sprache lernen könne. Dann kamen ihr die Tränen. Sie sei auch sehr unglücklich, erzählt sie dem Richter. Das Leben falle ihr schwer.
Ein Leben mit Perspektive
Rückblickend kann Choeying Dekyitsang nicht mehr sagen, welcher der zahlreichen Rückschläge in den letzten Jahren sie am stärksten beschäftigt hat. «Es war immer schwierig. Jeden Tag», sagt sie. Sie habe das zwar nicht immer gesagt, aber nur, weil sie die Menschen in ihrem Umfeld nicht belasten wollte.
Der Stress und die Sorgen sind weg, seit sie weiss, dass sie bleiben kann. Aus der Angst vor einer ungewissen Zukunft ist Tatendrang geworden. Zum ersten Mal seit Jahren kann die junge Frau Pläne schmieden. Sie sucht eine Wohnung. Am liebsten für sich alleine. Nach all den Jahren in der Notunterkunft in Reinach sehnt sie sich nach Ruhe und Privatsphäre.
Im Sommer möchte sie eine Lehre als Dentalassistentin anfangen. Sie konnte bereits schnuppern und es habe ihr sehr gut gefallen. Im Moment schreibt sie Bewerbungen. Es kommt ihr zugute, dass sie in all den Jahren an eine Zukunft geglaubt hat, in der Schule des Vereins Netzwerk Asyl Deutsch gelernt und Kontakte geknüpft hat. Den vielen Menschen, die sie unterstützt haben, ist sie dankbar. «Ich wüsste nicht, wo ich heute ohne sie wäre», sagt Choeying Dekyitsang. «Aber ich hätte sicher keine Aufenthaltsbewilligung.»
Härtefälle: So viele Gesuche wie noch nie
Wer sich illegal in der Schweiz aufhält, hat die Möglichkeit, ein Härtefallgesuch einzureichen und dadurch eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten. Voraussetzung, um überhaupt ein solches Gesuch zu stellen, ist beispielsweise, dass sich die gesuchstellende Person seit mindestens fünf Jahren in der Schweiz aufhält, genügend gut integriert ist und eine der Landessprachen beherrscht. Letztes Jahr haben Bund und Kantone 840 Härtefallgesuche bewilligt. So viele wie noch nie und fast zwanzig Prozent mehr als 2017, wie die «NZZ am Sonntag» berichtete. 716 Gesuche betrafen Personen ohne Aufenthaltspapiere und 124 abgewiesene Asylsuchende.