«Er hat nie etwas Schlechtes getan»: 39-Jähriger kommt für Sex mit einem 14-Jährigen ohne Strafe davon

Dass Opfer und Beschuldigter in einem Sexualdelikt im selben Auto zur Gerichtsverhandlung fahren, gibt es nur ganz selten. So geschah es aber gestern am Bezirksgericht Rheinfelden. Es ist nur eine Auffälligkeit beim Fall von «mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern», der in jeder Hinsicht aussergewöhnlich ist.

Ein Fall, bei dem Opfer und Täter eine Freundschaft pflegen, die auch heute noch ab und zu in Sex mündet. Ein Fall, bei dem der Beschuldigte im Verlauf der Verhandlung über das Opfer sagt: «Wenn er einen Freund braucht, dann bin ich für ihn da.» Und das Opfer über den Beschuldigten: «Er hat nie etwas Schlechtes getan. Eine Strafe hat er nicht verdient.»

Alles begann im Dezember 2018. Der damals 14-jährige Noah (Namen geändert) schrieb den 39-jährigen Beat auf Grindr an, einer einschlägigen Dating-App für homosexuelle Männer. Bald verabredeten sie sich zu einem Treffen – dabei kam es zum Sex zwischen den beiden. Es war das erste von mindestens zehn Mal, als Noah und Beat Sex hatten. Ein Jahr lang dauerte die Affäre. So weit die Fakten.

Aus Selbsthass suchte er Sex mit älteren Männern

Was die Beurteilung dieser Fakten betrifft, fällt vor allem eines auf: Noah und Beat sind sich erstaunlich einig. Obwohl Noah vor Gericht als Kläger auftritt. Obwohl Noah in der Befragung sagt, dass er damals eine schwere Zeit durchgemacht habe. Dass er wegen einer bipolaren Störung in therapeutischer Behandlung war. Dass er nur aus Selbsthass und Erniedrigung, um sich selbst zu bestrafen, Sex mit älteren Männern gesucht und darin keinerlei Befriedigung gefunden habe.

In mehreren Kantonen laufen Gerichtsverfahren gegen Männer, die mit Noah Sex hatten. Dabei hat der Junge Schlimmes erlebt, wie er in der Befragung andeutet. Doch bei Beat sei alles anders: «Hier gibt es im Gegensatz zu den anderen nichts Schlimmes zu sagen», erklärt Noah vor Einzelrichterin Regula Lützelschwab. Er fühlt sich von Beat nicht ausgenutzt. Der Sex sei immer einvernehmlich gewesen. Beat habe nicht wissen können, dass er noch minderjährig war. Noah:

«Meiner Meinung nach hat er sich nicht strafbar gemacht.»

Auf denselben Standpunkt stellt sich Beat. Vor Gericht sagt er mit bewegter Stimme: «Es war für mich ein Schock, als ich erfuhr, dass Noah so jung ist. Für mich gab es nie einen Anlass, an seiner Volljährigkeit zu zweifeln.» Schon beim ersten Treffen sei er in dieser Annahme bestätigt worden.

Der Minderjährige zeigte einen falschen Ausweis

Damals lud Noah den Beschuldigten zu sich nach Hause ein. Die beiden gingen spazieren. Dabei sei spontan die Idee aufgekommen, über die Grenze nach Deutschland zu gehen, so Beat: «Wir haben beide nachgeschaut, ob wir unsere Identitätskarten dabei haben.»

Im Gehen hätten sie die Fotos angeschaut, es sei relativ dunkel gewesen, aber er habe auf Noahs ID den Jahrgang 2000 gesehen. «Damit war für mich klar, dass Noah 18-jährig war», sagt Beat:

«Es ergab für mich ein stimmiges Bild: Er empfing mich alleine in seiner Wohnung und erzählte, er gehe auf eine Kunsthochschule. Ich hielt ihn für einen Studenten.»

Woher hätte er wissen sollen, dass Noah noch in die Oberstufe ging? Dass dieser Beat immer nur dann zu sich einlud, wenn seine Mutter weg war, mit der er die Wohnung teilte? Und vor allem: Dass die Identitätskarte mit Jahrgang 2000 einem Kollegen von Noah gehört, der ihm sehr ähnlich sieht?

Noah hatte vorher schon Sexualkontakte

Im Plädoyer sagt Beats Verteidiger sogar, sein Mandant sei von Noah aktiv über dessen Alter getäuscht worden. Dieser habe sein wahres Alter verheimlicht – aus Angst, dass Beat sonst das Interesse an ihm verliere. Sein Mandant sei nicht pädophil veranlagt, er stehe auf erwachsene Männer. Weiter argumentiert der Verteidiger, dass Noah vorher schon sexuelle Kontakte gepflegt habe und laut eigener Aussage durch Beat auch «nicht negativ beeinflusst» worden sei. Deshalb sei Beat vollumfänglich freizusprechen, fordert er.

Noahs Anwältin hält sich im Plädoyer sehr kurz. Sie äussert sich überraschend ähnlich wie Beats Verteidiger. Die happigen Vorwürfe relativierten sich stark, wenn man Noahs Aussagen höre. Es sei eine spezielle Konstellation, über die das Gericht entscheiden müsse. Gemäss Noahs Wunsch schliesst sie mit dem Antrag, die Beurteilung der Vorgänge und das Strafmass dem Gericht zu überlassen.

Das Urteil überrascht: Schuldig, aber keine Strafe

Eine bedingte Freiheitsstrafe von zehn Monaten, eine Geldstrafe von knapp 20000 Franken sowie ein lebenslanges Verbot aller Tätigkeiten, die einen regelmässigen Kontakt mit Kindern beinhalten: Das fordert die Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg, die an der Verhandlung nicht vertreten war.

Die Richterin spricht Beat schuldig, verzichtet aber auf eine Strafe. Er muss zwar die Kosten des Verfahrens tragen, erhält aber keinen Eintrag im Strafregister. Regula Lützelschwab sagt bei der Urteilsbegründung: «Die Entwicklung, welche die Beziehung der beiden nahm, ist speziell.»

Noahs Aussagen seien entscheidend dafür, dass sie im Urteil auf eine Strafe verzichte. Bei früheren Befragungen sei die Sache mit dem falschen Ausweis nie Thema gewesen. Dass die beiden Sex hatten, ist jedoch unbestritten. Lützelschwab erklärt, weil das Gericht eine Verantwortung habe, Kinder zu schützen, sei Beat schuldig zu sprechen.