«Das grenzt an Dilettantismus»: Jürg Widmer äussert sich zu seiner Entlassung beim FC Solothurn
Am 7. November stand Jürg Widmer zum letzten Mal an der Seitenlinie des FC Solothurn. Knapp 24 Stunden nach der 0:4-Auswärtsniederlage beim FC Kosova wurde der Trainer freigestellt. Seither konnte der 64-Jährige etwas Abstand gewinnen. Nun äussert sich Jürg Widmer erstmals zu seiner Entlassung.
Jürg Widmer, was lösten die Niederlagen des FCS gegen Langenthal und Höngg unter Interimstrainer Ronald Vetter bei Ihnen aus?
Jürg Widmer: Ich verfolge die Resultate weiterhin, da ich einen engen Bezug zu den Spielern hatte. Die Ergebnisse haben mich aufgewühlt und enttäuscht. Es war klar, dass es schwierige Spiele werden, aber zumindest gegen Langenthal hätte ich einen Sieg erwartet.
Keine Schadenfreude dabei?
Nein, ich wünsche dem Team, dass es rasch einen Weg findet aus dieser ungemütlichen Lage. Die Verunsicherung bei den Spielern nimmt nach den zwei Niederlagen aber natürlich nicht ab.
Wie war Ihre Gefühlslage nach der Entlassung vor zwei Wochen?
Ich war enttäuscht, verärgert und habe den Entscheid fast ungläubig aufgenommen. Getroffen hat mich die Vorgehensweise. Eine Saison besteht aus 26 Spielen. Eine abschliessende Bewertung nach elf Spielen ist unprofessionell und grenzt an Dilettantismus.
Wer hat den Entscheid gefällt?
Die neu konstruierte Sportkommission, die aus Juniorentrainern, dem Frauentrainer, den Mitgliedern der Geschäftsleitung und Nachwuchschef Ronald Vetter, einer meiner grössten Kritiker im Klub, besteht. Ich spürte nie das Vertrauen von dieser Sportkommission. Alles, was im Umfeld der ersten Mannschaft geleistet wurde, war falsch. Die Mitglieder waren nie zu einer Aussprache bereit. Die Ausnahme ist Sportchef «Bidu» Zaugg, der ein absolut kompetenter Fussballfachmann ist und ein Mensch, den ich sehr schätze.
Wie wurde der Schritt begründet?
Es gab keine konkreten Gründe. Man sorge sich um die Zukunft des Klubs – das war alles. Die meisten Mitglieder der Sportkommission hatten nicht einmal den Mut, sich persönlich von mir zu verabschieden. Was sich eigentlich gehört unter Trainerkollegen.
Sportchef Hans-Peter Zaugg sagte gegenüber dieser Zeitung, Sie hätten das Team nicht mehr erreicht.
Ich habe den Bezug zu den Spielern nie verloren. Die Mannschaft funktionierte. Die Trainingspräsenz von weit über neunzig Prozent, die Trainingsintensität und auch die Trainingsqualität bestätigen dies. Wie auch die Nachrichten und Zusprüche, die ich nach der Entlassung von den Spielern erhielt. Ich stand mit ihnen in einem ständigen konstruktiven Austausch.
Die Resultate waren ungenügend.
Die Bilanz entspricht klar nicht den Erwartungen. Ein Platz knapp über dem Strich war kein Szenario, das ich mir vor der Saison ausgemalt habe. Aber ich bin es gewohnt, dass man schwierige Situationen in einem Projekt miteinander und lösungsorientiert angeht.
Glaubten Sie an den Turnaround?
Ich bin überzeugt, dass ich zusammen mit dem Team und meinem tollen Staff diese Baisse gemeistert hätte. Doch ein innovatives und zukunftsorientiertes Projekt scheiterte am fehlenden Miteinander und Füreinander. Projektfortschritte verlaufen nie linear nach oben. Bei Rückschlägen braucht es auf und neben dem Platz Teamplayer, Wettkampftypen, Geduld und Vertrauen.
Waren die Ziele zu hoch gesteckt?
Die Erwartungen waren im Nachhinein zu hoch. Mit meiner Anstellung startete 2019 das Projekt Umbruch. Obwohl der Neuaufbau mehrmals durch Coronamassnahmen unterbrochen wurde, erreichte das Team in der zweiten Saison mit Platz drei und der Qualifikation für den Schweizer Cup erste Meilensteine. Mit den ehemaligen Solothurner Junioren Yves Kaiser und Robin Huser konnte «Bidu» Zaugg auf die neue Saison zwei Transfers tätigen, die aufhorchen liessen. Ihr Renommee im Profibereich stärkten die ambitiösen Ziele.
Wieso kam die Mannschaft in der Vorrunde nie auf Touren?
Einen ersten Nackenschlag erlitten wir eine Woche vor dem Saisonstart mit der 0:10-Niederlage im Cup gegen den FC Zürich. Eine Woche später gelang mit dem 4:0 gegen Buochs zwar ein Auftakt nach Mass. Der weitere Verlauf gestaltete sich aber harzig. Nach guten Leistungen in Köniz (3:0, Anm. d. Red.), in Wohlen (1:0) und bei der GC-U21 (2:2) folgten verhaltene Heim-Auftritte. Die Mannschaft präsentierte sich aber immer defensiv stabil und mit einem klar ersichtlichen Spielkonzept.
Wo liegen die Defizite des Teams?
Dem extrem jungen Team – zehn Spieler sind im U21-Alter – fehlt es an der Homogenität und Entschlossenheit in den individuellen Aktionen. Vor allem in der gegnerischen Box rächte sich dies – die Ausbeute von 13 Toren aus 11 Spielen ist suboptimal. Die erfahrenen Spieler konnten die in sie gesetzten Erwartungen aus verschiedenen Gründen nicht erfüllen. Einerseits waren es Verletzungen und Unfälle, die zu Ausfällen führten, andererseits schwächten wir uns mit dummen Platzverweisen selbst. Die jungen Spieler konnten den entstandenen Druck noch nicht tragen.
Sind Sie enttäuscht von der Einstellung und der Leistung einzelner Spieler?
Man darf die spezielle Zeit nicht vergessen, in der wir uns befinden. Die Spieler müssen sich im Leben zurechtfinden, der Alltagsstress wirkt sich auf die sportlichen Leistungen aus. Die Spieler sind Amateure. Der Fussball ist ihnen wichtig, aber die Herausforderung in der Schule und im Beruf sind gross. Eine Niederlage mehr oder weniger am freien Wochenende kann so zur Bedeutungslosigkeit verkommen. Für mich stehen der Mensch und sein Wohlbefinden immer im Mittelpunkt.
Was müssen Sie sich persönlich ankreiden lassen?
Ich beharrte zu wenig auf die Verstärkung der Torwart- und Stürmerposition. Das Team benötigt zwingend eine erfahrene Torwartpersönlichkeit und einen zusätzlichen dynamischen und aggressiven Stürmer.
Welches sind weiter Versäumnisse?
Ich habe es nicht geschafft, mich ausschliesslich auf die erste Mannschaft zu fokussieren. Zu gross waren die Unruhen im Umfeld. Die permanent kritischen Stimmen von Exponenten aus der Nachwuchsabteilung zerrten an der Substanz. Ich kämpfte um die klare Positionierung der ersten Mannschaft im Verein und versuchte, den seit Jahren bestehenden Graben zwischen der Juniorenabteilung und dem Fanionteam zu schliessen. Leider ohne Erfolg.
Welche Baustellen sehen Sie beim FC Solothurn?
Es bestehen Engpässe in der Infrastruktur, die Fussballplätze sind teilweise lieblos zubereitet. Bei der Nachwuchsförderung stellt sich zwingend die Frage nach dem Nutzen für den FCS.
Schadet die Partnerschaft mit dem FC Basel dem FC Solothurn?
Jedes Jahr wechseln die besten Junioren zum FCB. Es ist richtig, dass die Top-Talente beim Spitzenverein ausgebildet werden, doch es sind zu viele, die diesen Weg gehen. Solothurn verliert wertvolles Potenzial. 90 Prozent der Spieler scheiden nach der U18 aus dem Spitzenfussball aus, verschwinden in der Anonymität der unteren Ligen, verlieren ihre Fussball-Heimat oder beenden sogar frustriert ihre Karrieren. Das Ziel, irgendwann in der ersten Mannschaft des FC Solothurn zu spielen, ist für die meisten kein Thema. In der aktuellen Struktur fehlt es nach der U17/U18 an der erforderlichen Anschlusslösung.
Wie hat das Ihre Arbeit beeinflusst?
Die finanzielle Unterstützung vom SFV und dem FC Basel für die Nachwuchsförderung sind zum Sterben zu viel, aber zu wenig, um den Bedürfnissen der ersten Mannschaft gerecht zu werden. Trotzdem wird der Einbau von eigenen Junioren ins Fanionteam vom Umfeld immer wieder gefordert. Diese Botschaft nahm ich an und initiierte mit grossem Aufwand und ohne Kostenfolge für den Klub eine Fördergruppe, in der die verbliebenen Junioren mit zusätzlichen Trainings auf das Niveau in der 1. Liga vorbereitet werden.
Wie würden Sie Ihre zweieinhalb Jahre beim FC Solothurn bilanzieren?
Ich fühlte mich lange Zeit sehr wohl. Die Arbeit mit dem Team, dem Staff und den jungen Spielern der Fördergruppe war jeden Tag eine grosse Motivation. Ich habe alles gegeben für den Klub, das darf ich so sagen.
Was trauen Sie dem FC Solothurn im Strichkampf am Samstag zu?
Der Druck wurde noch einmal grösser. Der Gegner Buochs wird sich zurückziehen und sehr tief stehen. Gegen solche Gegner ist es nie einfach, aber ich denke, wenn die Solothurner geduldig auf ihre Chance warten, werden sie das Spiel gewinnen. Ich wünsche den Spielern diesen Sieg, sie hätten sich diesen versöhnlichen Abschluss verdient. In der Rückrunde sollte eigentlich der Vorstoss ins sichere Mittelfeld gelingen.
Wohin führt Ihr Weg?
In den letzten zwei Wochen konnte ich mich von den Geschehnissen rund um den FCS etwas distanzieren, die freien Tage geniessen und meinen Energietank langsam wieder füllen. Ich befasse mich bereits mit neuen, interessanten Fussballprojekten und führte einige konstruktive Gespräche mit Freunden aus dem Fussballgeschäft. Jetzt freue ich mich aber zuerst auf die Badeferien, welche ich erstmals nach zwei Jahren mit meiner Frau geniessen werde.