Gemeindewahlen im Aargau: Den Parteien bricht die Basis weg

Wer hat eigentlich bei den Gemeindewahlen 2017 gewonnen, wer verloren? Rasch wurde am 27. November klar: Die SP war bei den Einwohnerratswahlen die grosse Siegerin, die SVP die Verliererin. In Brugg schnappte Barbara Horlacher von den Grünen der FDP ihr «Erbmandat» weg, auch in Wohlen war ein Grüner erfolgreich. In Baden und Aarau eroberten Bürgerliche die Stadtpräsidien zurück. Aber wie ist es bei den 212 Gemeinden mit über 1000 Gemeinderatssitzen? Gewählt werden immer mehr Parteilose. Was heisst das für die etablierten Parteien?

Eine der AZ vorliegende Auswertung der Gemeindeabteilung des Kantons bestätigt: Immer mehr Parteilose werden in die Gemeinderegierungen gewählt. Umgekehrt verlieren mit Ausnahme der FDP alle traditionellen Volksparteien Sitze. Gemäss nationalen Auswertungen haben Parteilose in den Gemeinden inzwischen einen Sitzanteil von über 30 Prozent, sagt der Politologe Thomas Milic vom Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA). Im Aargau sind es gar bereits über 50 Prozent. Milic: «Die Tendenz ist weiter zunehmend. Es akzentuiert sich in kleinen Gemeinden, hier wird es am raschesten offenkundig. Hier haben die Parteien Mühe, ihre Parteistrukturen aufrechtzuerhalten oder aufzubauen. Immer weniger Leute wollen sich parteipolitisch binden, weil es ihnen schwerfällt, sich mit Parteizielen zu identifizieren.»

Bindungsunlust nimmt zu
Doch warum kandidieren so viele als Parteilose, abgesehen davon, dass sie sich nicht parteipolitisch binden wollen? Etliche haben keine Lust auf eine parteiinterne «Ochsentour», zudem spielt die parteipolitische Ausrichtung in den Gemeinden (ausser in grossen Gemeinden und in Städten) eher eine untergeordnete Rolle, so Milic. Denn bei den meisten lokalen Themen W spielen Ideologien keine Rolle. Parteilose sind nicht an das Programm einer Partei gebunden, sind also freier im Auftreten und Handeln. «Das ist bequemer», so Milic, «aber sie müssen sich dafür selbst ein Beziehungsnetz aufbauen. Wenn sie mal im Gegenwind stehen, haben sie dafür keine Partei, die sie stützt.» Oft wollen sich Parteilose aber auch gezielt für die Gemeinde engagieren und haben keine Pläne für eine kantonale oder nationale Politkarriere, ergänzt Milic. Dafür spüren sie auch nicht den Druck ihrer Partei im Rücken, wenn diese den Mandatsträger oder die Mandatsträgerin eines Tages als Last empfinden sollte und sich davon befreien will: «Wenn einem die eigene Partei die Unterstützung entzieht, hat man fast keine Chance mehr. Das zeigte jüngst der Rücktritt des grünen Nationalrats Jonas Fricker.»

Aber bricht mit der Tendenz zu Parteilosen nicht über kurz oder lang den etablierten Parteien die Rekrutierungsbasis weg? Der Rekrutierungspool werde eindeutig schmaler, sagt Milic: «Dieser Trend zeigt sich auch in der Freiwilligenarbeit. Im Kanton Zürich erlebte eine Gemeinde unlängst die früher kaum denkbare Situation, dass sich nur eine Person für das Amt des Friedensrichters interessierte!»

Quereinsteiger-Risiko: Neid
Dafür stellen sich heute mehr Quereinsteiger zur Verfügung, die von ihrer Funktion her schon eine gewisse Popularität haben. Etwa die frühere Richterin und jetzige Aargauer Regierungsrätin Franziska Roth, die Unternehmerin Magdalena MartulloBlocher und der frühere TV-Mann Matthias Aebischer im Nationalrat. Solche politische Blitzkarrieren sorgen innerparteilich aber auch für Neid und Spannungen, weil andere mühsam die «Ochsentour» absolvieren, um (vielleicht) gleich weit zu kommen, gibt Milic zu bedenken.

Etablierte Parteien verlieren
Die Auswertung der Gemeindeabteilung zeigt, dass die etablierten Parteien mit Sitzverlusten den Preis für den Vormarsch der Parteilosen zahlen. Nun spielen in jeder Gemeinde besondere Effekte, die dazu führen, dass eine Partei Kandidierende aufstellt oder nicht. Bei 212 Gemeinden ergibt sich jedoch durchaus ein Bild. Dieses besagt, so Milic, «dass die CVP seit Mai 2013 mit 28 Sitzen von allen Bundesratsparteien am stärksten verloren hat. Das kann man nicht alleine auf lokale Besonderheiten zurückführen. Nationale und kantonale Trends schlagen zwar nicht immer bis zur Gemeindeebene durch. Hier ist es aber wohl so.» Erstaunlich sei dies, weil es europäisch durchaus Christdemokraten mit grossem Erfolg gebe, etwa Sebastian Kurz als neuer österreichischer Kanzler.

Weniger dramatisch beurteilt Milic die Verluste von SVP und SP. Bei der SVP seien zwar ebenfalls Parallelen zum nationalen Trend erkennbar, aber die Verluste erfolgten auf höherem Niveau als bei der CVP. Es erstaunt ihn trotzdem, weil die SVP über landwirtschaftliche Organisationen von guten Parallelstrukturen und von vielen Ortssektionen profitiert. «Wahrscheinlich ist die SVP darob selbst überrascht.» Dass die SP auf dem Land verliert, in den Städten zulegt, ist für Milic kein Widerspruch: «Viele Städte waren einst bürgerlich regiert. Dann kippte es. Zürich und Basel sind heute linke Hochburgen. Jetzt kommt dieser Trend im Zug des Strukturwandels in kleineren Städten und grösseren Agglomerationsgemeinden an. In den kleineren Gemeinden hat die SP aber mit denselben Problemen zu kämpfen wie CVP und SVP.»

Stabilität fast schon ein Sieg
Wenn eine Partei ihre Sitze auf hohem Niveau hält wie die FDP, «ist dies angesichts der Zunahme der Parteilosen fast schon ein Sieg», bilanziert Milic weiter. Hier spüre man gewiss, dass sich die Partei gefangen hat und national sowie kantonal zulegt: «Diese Partei hat es mit Philipp Müller als Präsident und seiner hemdsärmeligen Art geschafft, das Image einer Bankenpartei etwas abzustreifen.»