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«Gletscherschwund – na und?»: Welche Folgen das Schmelzen der Eisriesen hat 

«Gletscherschwund – na und?»: Welche Folgen das Schmelzen der Eisriesen hat 

Der Glaziologe Andreas Vieli nahm am Montag am Podium Interface der Fachhochschule Nordwestschweiz in Brugg-Windisch teil. Er referierte über die Eisschilde im Treibhaus. 

Christoph Bopp

Der Aletschgletscher ist der längste Eisstrom der Alpen. 

Keystone

Ein Leben eines Menschen währt um die 80 Jahre. Einige werden etwas älter, andere sterben aus mancherlei Gründen früher. Ist das lang oder eher kurz? Kommt drauf an, wird man sagen. Es ist auf jeden Fall eine mehr oder weniger verlässliche Grösse, an der man sich orientieren kann. Eine andere Binsenwahrheit: Um uns herum verändert sich ständig alles.

Nichts bleibt, wie es ist. Es gibt Veränderungen, die wir bemerken, andere gehen langsamer vor sich, und wir bemerken sie nicht. Der Mensch hat Bewusstsein und Erinnerung. Und er besitzt Instrumente, um die Erinnerung zu verlängern. Und deshalb werden uns auch Veränderungen bewusst, die sonst fast unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle ablaufen.

Eine davon ist der Klimawandel. Er verläuft – im Moment – gerade etwa so schnell, dass wir am Rande mitbekommen, dass da etwas abläuft. Und doch fragen wir uns am Morgen eines kühlen Sommertages, wo denn das «global warming» (Globale Erwärmung) geblieben sei.

Darüber lächeln die meisten von uns, denn wir sind doch aufgeklärte Menschen. Und wir denken an rote Säulen oder Kurven, die nach oben steigen. Grafische Darstellungen von Messwerten, allerdings mathematisch geknetet durch Operationen, welche die wenigsten von uns verstehen. Aber sie vermitteln einen Eindruck. Einen Eindruck davon, dass es wärmer wird.

Gletscher machen den Klimawandel sichtbar

Rote Balken, die immer weiter nach oben reichen, sind eindrücklich, aber natürlich nicht so eindrücklich wie eine reale Erfahrung. Etwas, was einer realen Erfahrung am nächsten kommt, ist der Gletscherschwund. Wir haben immerhin Fotos und andere Dokumentationen, die belegen, dass die Eisriesen in den Alpen sich zurückziehen. Wo vor kurzem noch Eis war, ist jetzt Schutt und Geröll. Und das Eis winkt, wenn überhaupt noch, von weit oben her. Und jeder weiss: So sieht es aus, wenn es wärmer geworden ist.

Die Gletscher liefern uns eine Anschauung, klarer und eindrücklicher als die Zahlen, die noch mathematisch modelliert werden müssen, bevor allenfalls daraus etwas Vorstellbares wird. Je wärmer, desto weniger Eis. Andreas Vieli, Professor für Glaziologie am Geographischen Institut der Universität Zürich, zeigte in seinem Vortrag allerdings auf, dass es trotz allem nicht so einfach ist mit den Gletschern. «Gletscherschwund – na und?» – so hätte man seinen Vortrag auch übertiteln können.

Dass Gletscher Erinnerung vermitteln oder buchstäblich tragen können, wissen wir auch schon, wenn sie Dinge aus mehr oder weniger grauer Vorzeit wieder zum Vorschein bringen. Sensationellstes Beispiel: Ötzi, der Bronzezeit-Mann vom Hauslabjoch. Der Gletscher hatte ihn konserviert. Dass er erhalten blieb, ist allerdings dem Umstand zu verdanken, dass der Gletscher dort gerade nicht getan hatte, was er sonst tut. Eis fliesst – Ötzi lag in einer Mulde, wo sich das Gletschereis nicht bewegte.

1991 wurde Ötzi, der Bronzezeit-Mann vom Hauslabjoch, gefunden. 

Museo Archeologico Alto Adige/Ho/EPA

Gletscher in den Alpen, die wir kennen, sind das Eine. Bis ins Jahr 2100, so vermuten die Klimatologen, dürften 60 Prozent ihrer Eismasse verloren gegangen sein, wenn wir es klimapolitisch nicht auf die Reihe bringen. Das schadet dem Tourismus, Gletscher sind eindrücklich und schön.

Das Antarktis-Eis lässt den Meeresspiegel um 15 Meter steigen

Weniger schön sind die Naturgefahren, die durch den Gletscherrückgang verursacht werden: Moränenseen, die sich unversehens entleeren und Talschaften überschwemmen können. Oder das Abbröckeln der Gesteinsformationen am Rand, im Moment beim Aletschgletscher auf der Moosfluh zu beobachten.

Am eindrücklichsten sind wieder die Phänomene, die wir nicht wahrnehmen. Das Abschmelzen des Eises lässt den Meeresspiegel ansteigen: Das Eis aus den Alpen könnte allerdings höchstens einen halben Meter ausmachen. Und dass alles abschmilzt, sei nicht zu erwarten. Es dürfte also in Zentimeterausmassen bleiben. Das Abschmelzen des Grönland-Eisschilds (6 bis 7 Meter) und des Eises in der Antarktis (maximal 65 Meter) sind andere Grössenordnungen. Bis 2100 – gehen die Schätzungen – soll es etwa einen Meter ausmachen, bis 2500 wären dann 15,65 Meter zu befürchten. Wer denkt so weit voraus?

Und – das wären die anderen Seiten der Schätzungen – wenn wir es noch schaffen, den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu beschränken, bliebe es bei 25 Zentimetern. Die Unsicherheiten sind gross. Das hängt auch damit zusammen, dass die Eismassen zwar schwerfällig reagieren, aber dass es schnell gehen kann, wenn die Umstände danach sind.