Grosses Chaos oder alles in Ordnung? Hausdurchsuchung beim Kantonalen Sozialdienst

Eine Abteilung mit Vorgeschichte

Die Unterabteilung Asyl des Kantonalen Sozialdienstes ist noch jung. Der Regierungsrat hat sie im Zuge einer Reorganisation per 1. Januar 2017 bewilligt. Hintergrund waren die gewachsenen Herausforderungen im Asylbereich. Die Unterabteilung sollte die strategische und operative Führung stärken. Seit es die Abteilung gibt, wird sie von Pia Maria Brugger geleitet. Der Leiter des Kantonalen Sozialdienstes, Stefan Ziegler, ist seit Oktober 2016 in dieser Funktion. Er folgte auf Cornelia Breitschmid, die im Februar 2016 Knall auf Fall kündigte. Ihre Kündigung stand im Zusammenhang mit der «Kroatien-Connection» im Asylwesen. Die AZ hatte einen Fall von Vetternwirtschaft bei der Beschaffung von Möbeln für Asylunterkünfte publik gemacht. Die damals zuständige Regierungsrätin Susanne Hochuli liess danach den gesamten Verwaltungsbereich Asyl durch eine Sonderprüfung unter die Lupe nehmen und ordnete gleichzeitig weitere Massnahmen an. So wurde das Asylwesen direkt dem Generalsekretär unterstellt. Neben Cornelia Breitschmid hatten damals weitere erfah-
rene Mitarbeitende gekündigt. (az)

Am 28. November 2019 hat die Staatsanwaltschaft beim Kantonalen Sozialdienst, der zum Departement Gesundheit und Soziales gehört, eine Hausdurchsuchung durchgeführt. «Es ging darum, umfangreiches Beweismaterial zu sichern», bestätigt Fiona Strebel, Mediensprecherin der Aargauer Staatsanwaltschaft, Recherchen der AZ.

Hintergrund der Hausdurchsuchung sind zwei laufende Verfahren gegen Kantonsangestellte. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Verdachts auf Aussetzung.

«Der Aussetzung macht sich zum Beispiel schuldig, wer einen Hilflosen, für den er zu sorgen hat, einer Gefahr für das Leben oder einer schweren unmittelbaren Gefahr für die Gesundheit aussetzt oder ihn in einer solchen Gefahr im Stich lässt», erklärt Fiona Strebel. Bei einem Schuldspruch droht eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder eine Geldstrafe.

Für die beschuldigte Mitarbeiterin des Sozialdienstes und den beschuldigten Mitarbeiter des Amts für Migration und Integration, das zum kantonalen Innendepartement gehört, gilt die Unschuldsvermutung.

Kanton verweigerte einem Flüchtling die Operation

Rückblende: Ende Dezember 2018 berichtete die AZ über den ausreisepflichtigen Flüchtling Ruslan Nachchaev aus Tschetschenien. Der damals 48-jährige Vater von drei Söhnen sitzt seit einer Bombenexplosion im ersten Tschetschenienkrieg im Rollstuhl. Er ist Tetraplegiker. Nebst der spastischen Lähmung hat er eine Funktionsstörung der Harnblase und ist auf einen Katheter angewiesen.

Nicht auf dem Foto ist der älteste Sohn. Magomed ist untergetaucht.

Die Angst vor der Ausschaffung nach Russland bleibt Ruslan Nachchaev (Mitte) mit seiner Frau Khawa Dugaeva und seinen Söhnen Yasin (links) und Malik (hinten).

Nicht auf dem Foto ist der älteste Sohn. Magomed ist untergetaucht.© Sandra Ardizzone

Die Ärzte wollten ihn operieren, weil die Gefahr eines Rückstaus aus der Blase in die Nieren bestand, was im schlimmsten Fall zu einem tödlichen Nierenversagen führen könnte. Doch der Kantonale Sozialdienst bewilligte die Operation monatelang nicht. Das Migrationsamt leitete derweil die Ausschaffung der Familie in die Wege.

Zur Wende kam es erst im November 2018. Benno Straumann, der sich als Freiwilliger für Flüchtlinge engagiert und an der Schule für minderjährige Asylsuchende in Aarau unterrichtet, schaltete sich ein.

In einem eingeschriebenen Brief forderte er die Ver- antwortlichen auf, Ruslan Nachchaev die lebensnotwendige Operation zu ermöglichen. Ansonsten würde er eine Beschwerde einreichen. Das wirkte. Der Sozialdienst leitete die Behandlung ein. Eine Sprecherin des Departements bezeichnete dies gegenüber der AZ später als Fehler. Aus medizinischer Sicht habe keine lebensbedrohliche Situation bestanden, der Sozialdienst habe jedoch kein Risiko eingehen wollen.

Lose Papierakten und ein Computerprogramm, das abstürzt

Ruslan Nachchaev wurde Anfang 2019 operiert. «Es geht ihm entschieden besser und nach Arztberichten besteht urologisch keine gesundheitliche Gefahr für ihn», sagt Benno Straumann. Die Sache ist damit aber nicht vom Tisch. Am 4. Januar 2019 hat Straumann die zwei verantwortlichen Mitarbeitenden des Kantons angezeigt. Er wirft den beiden vor, in einer lebensbedrohlichen medizinischen Notlage die Nothilfe vorsätzlich und fortgesetzt verhindert zu haben. Dadurch hätten sie Ruslan Nachchaev in Lebensgefahr gebracht oder in Lebensgefahr belassen.

In den inzwischen eröffneten Strafverfahren gegen die Kantonsangestellten vertritt Straumann die Rechte des abgewiesenen Flüchtlings. Ihm ist wichtig, festzuhalten, dass im Sozialdienst und in der Unterabteilung Asyl eine «beträchtliche Zahl von Personen arbeitet, die ihr Bestes geben und aussergewöhnliche Leistungen für die ihrer Obhut unterstellten Asylsuchenden vor Ort erbringen». Trotzdem spart er nicht mit Kritik: «Soweit ich an den bisherigen Ermittlungen und Befragungen beteiligt bin, besteht im Kantonalen Sozialdienst ein mittleres bis grosses Chaos.»

Dies belege auch der Hausdurchsuchungsbericht der Staats- anwaltschaft. Es seien lose Papierakten gefunden worden, ein Teil der Akten musste per Kurier herbeigeschafft werden, da sie beim Sozialdienst nicht greifbar waren, und auch das Computerprogramm sei mehrfach abgestürzt. «Die IT-Spezialisten der Kantonspolizei haben grosse Mühe gehabt», sagt Straumann.

Auch er selber sei beim Kantonalen Sozialdienst mehrfach aufgelaufen. Akteneinsicht musste er mit Rechtsmitteln erzwingen. Der Sozialdienst habe «einen Monat gebraucht, um eine redigierte, bereinigte Fassung des einschlägigen Dossiers anzufertigen». Das Dossier sei «nachweislich unvollständig».

Straumann ist klar, dass sich die Missstände, die er anprangert, nicht mit Strafverfahren gegen einzelne Mitarbeitende lösen lassen. «Die Öffentlichkeit und die Politik haben jedoch ein Anrecht darauf, über die Zustände in der Staatsverwaltung zuverlässige Informationen zu bekommen», sagt er. Ein öffentliches Strafverfahren könne dazu beitragen. Ihm gehe es darum, jene Veränderungen zu bewirken, «welche in einem funktionierenden Rechts- und Dienstleistungsstaat zu einem selbstverständlichen Verhalten der Verwaltung führen».

Jean-Pierre Gallati weist die Vorwürfe zurück

Die Staatsanwaltschaft äussert sich auf Anfrage nicht zum Resultat der Hausdurchsuchung oder dazu, was sie vor Ort angetroffen hat: «Wir befinden uns in einem laufenden Verfahren und sind ans Untersuchungsgeheimnis gebunden», sagt Sprecherin Fiona Strebel. Auf die Frage, warum die Hausdurchsuchung beim Kantonalen Sozialdienst erst Ende November durchgeführt wurde, obwohl die Anzeige schon im Januar eingegangen war, sagt sie: «Weil es sich erst in diesem Zeitpunkt als notwendig erwies.» Für eine Hausdurchsuchung beim Amt für Migration und Integration hingegen habe «keine Notwendigkeit» bestanden.

Regierungssprecher Peter Buri sagt, der Kantonale Sozialdienst überprüfe seine Abläufe regelmässig. Er habe dies auch nach besagtem Fall Ende 2018/Anfang 2019 getan. «Diese Überprüfung hat zu keinen Veränderungen der Abläufe geführt.»

Und was ist mit dem angeblichen Chaos, das in der Abteilung herrschen soll? Buri sagt, das Departement Gesundheit und Soziales sei nicht Partei des Strafverfahrens und habe keinen Zugriff auf alle Akten. «Deshalb kann sich das Departement auch nicht zu einzelnen vom Rechtsvertreter geäusserten Kritikpunkten äussern.» Das abgeleitete Pauschalurteil zur Situation beim Kantonalen Sozialdienst treffe nicht zu. Jean-Pierre Gallati, der Vorsteher des Departements, sagt: «Der Kantonale Sozialdienst ist eine vorbildlich geführte Abteilung.»

Die beiden beschuldigten Personen arbeiten weiter

Auf das Arbeitsverhältnis der Beschuldigten hat das laufende Strafverfahren keine Auswirkungen. Beide sind nach wie vor in ihren bisherigen Funktionen tätig. «Der Mitarbeiter des Amts für Migration und Integration bearbeitet auch weiterhin den Fall der ausreisepflichtigen Person», sagt Peter Buri.

Der Regierungsrat habe ein diesbezügliches Ausstandsbegehren abgewiesen. «Er hat festgestellt, dass keine aktenkundigen Anhaltspunkte gegeben sind, die auf ein persönliches Fehlverhalten des Mitarbeiters im Sinne einer Befangenheit hindeuten würden», sagt Peter Buri. Es gebe für den Regierungsrat deshalb keine Zweifel, dass der Mitarbeiter das hängige ausländerrechtliche Verfahren «korrekt weiterführen und die dabei erforderlichen Entscheide unvoreingenommen fällen beziehungsweise vorbereiten kann».

Gegen die Mitarbeiterin des Sozialdienstes wurde ebenfalls ein Ausstandsbegehren gestellt. Der Regierungsrat sei «aus formalen Gründen» nicht auf dieses eingetreten, sagt Buri. «Departementsintern wurde jedoch entschieden, die Sachbearbeitung in diesem Fall auf ein anderes Teammitglied zu übertragen.» Dieser Entscheid sei nicht aus rechtlichen Gründen im Zusammenhang mit der Strafanzeige gefällt worden, sondern aus internen Erwägungen, hält er fest.