
Grünen-Grossrat und Hausarzt Severin Lüscher: «Ich habe keine Zeit für epische Diskussionen über Masken»
Zur Person: Severin Lüscher
Als Hausarzt sind Sie wahrscheinlich schon geimpft, oder?
Hatten Sie nach der Impfung den berüchtigten «Covid-19-Arm»?
Den Covid-19-Arm habe ich in der Praxis gesehen. Bei einem Prozent der Geimpften gibt es den. Ich selbst hatte keinen. Aber an den Tag nach der zweiten Impfung erinnere ich mich noch gut. Ich hatte Sitzungen in Aarau. Am Morgen habe ich ein Panadol geschluckt. Dieses wirkte nicht einmal bis am Mittag. Da habe ich schon ein bisschen gelitten. Aber wenn ich mich angesteckt hätte, hätte ich im schlechteren Fall ziemlich viel länger gelitten.
Seit letzter Woche dürfen auch Hausärztinnen und Hausärzte impfen. In anderen Kantonen impfen sie schon viel länger. Hätten Sie auch gerne früher angefangen?
Im ersten Moment war ich schon etwas enttäuscht, dass wir im Aargau erst später zum Zug kommen. Vor allem, weil ich als Hausarzt für Risikopatientinnen und Risikopatienten Atteste ausstellen musste, damit sie geimpft werden können und sie in dieser Zeit gerade so gut selbst hätte impfen können. Jetzt, wo wir angefangen haben, sehe ich wie aufwendig das Impfen und wie kompliziert die Organisation und Administration ist. Es war wohl die richtige Entscheidung, dass der Kanton 75 Prozent der Bevölkerung in den Impfzentren und 25 Prozent in den Arztpraxen und Apotheken impfen will. Unser Alltagsbetrieb läuft ja gleichzeitig voll weiter.
Im Aargau warten 110’000 Personen auf einen Impftermin. Für eine Herdenimmunität reicht das nicht.
Ich bin gespannt, wie sich das entwickelt. Vielleicht entscheiden sich noch mehr Menschen für die Impfung, wenn sie sehen, dass es im gesellschaftlichen Leben einen Unterschied macht, ob sie geimpft sind oder nicht.
Sie meinen Privilegien für Geimpfte?
Ich wehre mich dagegen, in diesem Zusammenhang von Privilegien zu sprechen. Wer geimpft ist, soll keine Privilegien erhalten, aber wieder einigermassen normal leben können.
Und wie soll man mit Personen umgehen, die sich nicht impfen lassen wollen?
Ich finde es wichtig, dass jeder selbst entscheiden kann, ob er sich impfen lassen will. Ich frage mich auch, wie lange man überhaupt versuchen soll, jemanden von der Impfung zu überzeugen, oder wann man sagt: Du hast freiwillig darauf verzichtet, dich zu impfen, wir werden nun nicht deinetwegen die Schutzkonzepte ewig weiterführen.
Wie handhaben Sie das als Hausarzt?
Wenn sich eine 80-jährige Patientin nicht impfen lassen will, sage ich ihr vielleicht, dass der Stich weniger schlimm sei als eine Covid-19-Infektion und sie sich jederzeit melden könne, wenn sie sich doch noch für die Impfung entscheidet. Aber ich schwatze niemandem eine Impfung auf. Als Hausarzt führe ich auch unabhängig von Corona oft Gespräche über Impfungen. Mit jungen Eltern zum Beispiel, die ihr Kind nicht impfen lassen wollen. 16 Jahre später kommt dann vielleicht ein Teenager zur Tür rein, der sich «subito alles» impfen lassen will, damit er ins Austauschjahr nach Amerika kann.
Am Wochenende haben die «Massnahmen-Skeptiker» in Aarau demonstriert. Wie soll man mit solchen Gruppierungen umgehen?
Ich finde es konsequent, die Demonstrationen nicht zu bewilligen. Die Organisatoren solcher Demonstrationen sind schlicht verantwortungslos. Zuerst mobilisieren sie, und dann ziehen sie sich aus der Verantwortung und sagen, sie könnten nichts tun, damit niemand kommt. Gleichzeitig frage ich mich schon auch, warum diese wenigen Leute medial immer wieder eine so grosse Plattform erhalten. Man könnte sich stattdessen mal fragen, warum die Fallzahlen im Moment – entgegen den Prognosen – zurückgehen.
Was ist Ihre Erklärung dafür?
Es könnte daran liegen, dass die ganz grosse Mehrheit der Leute ihre Verantwortung wahrnimmt, vielleicht auch einfach gehorcht und sich an die Massnahmen hält. Wenn nämlich alle so saublöd täten wie die Massnahmen-Skeptiker, hätten wir ein riesiges Desaster. Sie haben nicht einmal verstanden, wozu eine Maske gut ist – dass man damit primär seine Mitmenschen schützt. Verantwortung nicht nur für sich selber zu übernehmen, sondern auch für die anderen und das gemeinsame Ganze, das könnten wir aus Corona lernen.
Apropos Masken: Gibt es Patientinnen und Patienten, die wegen einer Maskendispens zu Ihnen in die Praxis kommen?
Wir hatten in unserer Gruppenpraxis tatsächlich ein paar Patientinnen und Patienten, die versucht haben, einen Dispens zu erhalten. Wir waren uns aber einig, dass man das bei uns nicht einfach holen kann und haben das von Anfang an so kommuniziert. Ich habe keine Zeit für epische Diskussionen über Masken. Das merken die Leute auch. Aber militante Skeptiker kommen sowieso nicht zu uns. Die wissen genau, wo sie ihr Zeugnis kriegen.
Das heisst also, von Dr. Lüscher bekommt niemand einen Maskendispens?
Ich habe einem Fahrlehrer ein Zeugnis ausgestellt. Ich habe schriftlich festgehalten, wenn es für ihn wirklich so schwierig sei, Fahrstunden zu geben mit Maske, könne er auch täglich einen Selbsttest machen und dies dokumentieren. Dann könne er die Maske mit Einverständnis des jeweiligen Fahrschülers zwischendurch ausziehen – und das Auto immer gut lüften.
Kommen wir zur Politik. 2019 haben Sie für die Grünen für den Regierungsrat kandidiert. Gewählt wurde Jean-Pierre Gallati. Beneiden Sie den Gesundheitsdirektor?
Nein, ich beneide ihn gar nicht. Ich bin immer noch sehr gerne Hausarzt. Wäre ich Gesundheitsdirektor geworden, hätte ich – ähnlich wie er – versucht, das Beste aus der schwierigen Situation zu machen. Ich habe mir letztes Jahr natürlich ab und zu überlegt, was ich anders machen würde.
Und?
Ich hätte am Anfang wahrscheinlich stärker die medizinische Seite gesehen. Er hingegen hat als Jurist von Anfang an darauf geachtet, dass es rechtlich sauber läuft. Das sind zwei verschiedene Akzente. Ich als Mediziner wäre wohl eher auf die Unterstützung des Rechtsdienstes angewiesen gewesen; er als Jurist war wohl froh um das medizinische Wissen in der Verwaltung und den Spitälern.
Das klingt, als wären Sie grundsätzlich zufrieden.
Ja. Ich finde, die Regierung und der Gesundheitsdirektor machen gute Arbeit. Auch im Vergleich mit anderen Kantonen. Nur mit dem Entscheid, vor Weihnachten auch die Läden zu schliessen, haben sie ein paar Leute verärgert.
Hätten Sie nicht so entschieden?
Am Schluss wäre es auf die paar Tage wohl nicht angekommen. Das weiss man zum Zeitpunkt des Entscheids aber nicht. Ich sah und sehe den Entscheid eigentlich mehr als Signal. Der Gesundheitsdirektor beziehungsweise die ganze Regierung zeigten, dass sie bereit sind, Verantwortung zu übernehmen.
Gleichzeitig standen die Spitäler damals wirklich kurz vor dem Kollaps, und das hat sich schon Ende November abgezeichnet.
Das stimmt. Aber man muss auch sehen, dass die entscheidenden Weichen in Bern gestellt werden. Und wenn der Bundesrat nicht vorwärtsmacht, ist es für die Kantone extrem schwierig, der Bevölkerung zu vermitteln, dass man die Massnahmen trotzdem verschärft.
Das Pflegepersonal leistete enorm viel. Mit der Wertschätzung haperte es.
Es ist so: Klatschen reicht nicht. Eine materielle Anerkennung tut not. Aber mit Geld allein können wir gar nicht bezahlen, was die Pflege geleistet hat. Gleichzeitig hätten wir ein gröberes Problem, wenn wir das Personal, das diese grosse Leistung erbracht hat, verlieren würden. Deshalb ist das Zwischenmenschliche so wichtig, die Wertschätzung. Ich habe das wohl selbst unterschätzt.
Warum unterschätzt?
Ein Spitaldirektor hat mir nach der ersten Welle im Frühling geschrieben, sie hätten es geschätzt, jemand von der Politik – abgesehen vom Gesundheitsdirektor – wäre vorbeigekommen. Ich habe mir das zu Herzen genommen und bin während der zweiten Welle hingefahren. Natürlich konnte ich nicht jeder einzelnen Person persönlich Danke sagen. Aber es ist gut, wenn wir, die in Aarau entscheiden, uns auch einmal ein Bild vor Ort machen.
Von Gesundheitspolitikerinnen und Gesundheitspolitikern im Grossen Rat war letztes Jahr allgemein wenig zu hören. Woran liegt das?
Wenn die Feuerwehr am Löschen ist, soll man nicht im Weg herumstehen. Pandemiebedingt konnten wir uns auch viel weniger austauschen. Und auf gute Ideen kommt man ja bekanntlich im Gespräch – und am liebsten im Gespräch mit jemandem, der nicht gleicher Meinung ist.
Es geht nicht nur um neue Ideen, sondern auch um wichtige Geschäfte. Die Gesundheitspolitische Gesamtplanung zum Beispiel. Da wäre man ohne Pandemie sicher schon weiter.
Ja. Es gibt Vorarbeiten und Workshops, die nicht stattfinden konnten. Aber weil Corona so ziemlich das ganze Leben betrifft, haben auch alle Verständnis dafür, dass es halt länger dauert. Wir haben nur eine Verwaltung. Sie muss die Krise managen und gleichzeitig die politischen Geschäfte vorbereiten.
Die FDP Aargau findet, um die Verwaltung zu entlasten, sollte der Regierungsrat den Kantonalen Führungsstab einsetzen.
Wenn man sich anschaut, wer genau Teil des Führungsstabs ist, sieht man: Das sind Leute aus der Verwaltung. Es ist, wie wenn man in der Krise sagt, in den Spitälern brauche es Spitalsoldaten. Spitalsoldaten arbeiten aber auch im «normalen Leben» im Spital. Ich glaube nicht, dass wir heute dank Krisenstab mit unseren regulären Geschäften weiter wären.