
Härtefälle: Nach heftiger Kritik von Kantonen liefert der Bund neue Zahlen zu Ausschaffungen
Nur jeder zweite verurteilte Ausländer, der laut der Ausschaffungsinitiative die Schweiz verlassen sollte, wird mit einem Landesverweis belegt. Das zeigten Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BFS), die am Montag publiziert wurden. Dies provozierte heftige Kritik von SVP-Vertretern: Die sogenannte Härtefallklausel werde viel zu oft angewendet, sagten sie in der «Nordwestschweiz» vom Dienstag.
Nun zeigt sich: Die publizierten Zahlen geben ein verzerrtes Bild wieder. Die Härtefallklausel dürfte in der Realität weniger oft zur Anwendung gekommen sein, als das BFS zunächst mitgeteilt hatte. So weist die Statistik für den Aargau im letzten Jahr beispielsweise 40 Fälle aus, in denen Gerichte über eine Landesverweisung entscheiden mussten. Laut den Zahlen des Bundes wurde diese in 14 Fällen verhängt, in 26 Fällen nicht. Ganz andere Angaben machen dagegen die Aargauer Gerichte: Zwischen dem 1. Oktober 2016, als das neue Gesetz zur Landesverweisung in Kraft trat, und Mitte Dezember 2017 sei die Härtefallklausel kein einziges Mal angewendet worden.
Grund für die Verwirrung
Schon am Dienstag sagten Staatsanwälte aus den Kantonen Bern und Freiburg im «Tages-Anzeiger», sie könnten sich die BFS-Zahlen zum Teil nicht erklären. Ein Grund für die Verwirrung liegt in den Tiefen der Statistik: Das BFS berücksichtigte für seine Auswertungen alle Betrugsdelikte. Gemäss Auslegung des Bundesrats führen jedoch einfache Betrugsfälle nur dann zur obligatorischen Landesverweisung, wenn sie bei der Sozialhilfe, den Sozialversicherungen oder den öffentlich-rechtlichen Abgaben begangen wurde. Das BFS erfasste für seine Statistik also auch Urteile, in denen eine obligatorische Landesverweisung gar nicht vorgesehen ist. Die einfachen Betrugsdelikte fallen ins Gewicht: Sie machen über ein Fünftel der vom BFS analysierten Fälle aus. Kommt hinzu: Gerade bei diesen Straftaten kam es fast nie zu Landesverweisungen – laut Statistik nur in 7 von 282 Fällen.
Das beeinflusst das Resultat der Auswertungen massgeblich. Insgesamt war das BFS zum Schluss gekommen, dass nur in 54 Prozent der Fälle, die eine obligatorische Landesverweisung zur Folge hätten, diese auch wirklich zur Anwendung kam. Werden die einfachen Betrugsdelikte in der Statistik nicht berücksichtigt, steigt diese Prozentzahl an. Mit anderen Worten: Die Härtefallklausel wurde weniger häufig angewandt, als die Zahlen des BFS nahelegten.
Das Bundesamt für Statistik will nun nachbessern. Es werde die bereits publizierten Daten beibehalten, aber eine zusätzliche Tabelle veröffentlichten, erklärte das BFS am Dienstag auf Anfrage. Auch diese wird aber nur eine Annäherung an die Realität sein: Weil es nicht möglich ist, nur Sozialhilfe- und Sozialversicherungsbetrug zu erfassen, wird das BFS die einfachen Betrugsdelikte gar nicht mehr berücksichtigen. Die Statistik bleibt damit unvollständig.
«Erwarte mehr Sorgfalt»
Fabien Gasser, Präsident der Schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz, zweifelt noch aus einem anderen Grund an der zentralen BFS-Aussage: «Diese Zahl hätte nie publiziert werden sollen, sie bildet die Realität nicht ab», kritisiert er. Denn wenn eine Landesverweisung verfügt werde, komme es häufiger zu Rekursen, als wenn keine ausgesprochen werde. Gasser geht davon aus, dass noch Hunderte von Fällen hängig sind – was die Statistik nochmals auf den Kopf stellen könnte. Das BFS verweise zwar auf diesen Umstand, vermittle mit den 54 Prozent dennoch ein falsches Bild.
Auch Ständerat Andrea Caroni (FDP/AR) hält die BFS-Zahlen aus verschiedenen Gründen für «hochproblematisch». Er kritisiert unter anderem, es sei schlicht noch zu früh, um seriös Bilanz zur Ausschaffungsinitiative zu ziehen. Zudem hätten kantonale Staatsanwaltschaften zum Teil ganz andere Zahlen vorgelegt, was Fragen zur BFS-Statistik aufwerfe. «In einem politisch so sensiblen Bereich erwarte ich mehr Sorgfalt», sagt er.
SVP: nicht relevant
Für Nationalrat Gregor Rutz (SVP/ZH) ist die Diskussion um die genauen Zahlen hingegen wenig relevant: «Es wird um den heissen Brei herumgeredet.» Die Härtefallklausel sei eigentlich nur für Ausnahmefälle gedacht, so habe es das Parlament entschieden. «Die Härtefallklausel sollte deshalb in höchstens 5 Prozent der Fälle zur Anwendung kommen. Alles andere ist absurd.» Am liebsten wäre der SVP, wenn die Härtefallklausel ganz gestrichen würde: Sie entschied am Dienstag, einen entsprechenden Vorstoss von Rutz zu unterstützen.