
Historisches Bauernhaus von 1640 zerstört – Gemeinde verfügt sofortigen Baustopp


Historisches Bauernhaus «aus Versehen» abgerissen?
Kommentar von Andreas Fahrländer/AZ
Jetzt ist es also wieder passiert. Ein historisches Haus wurde abgerissen und die Bevölkerung bleibt staunend bis ratlos zurück. Ein privater Bauherr will auf dem Areal des historischen Murihofs, dem ehemaligen Lehnshof des Klosters Muri, im alten Wettinger Dorfkern drei Mehrfamilienhäuser erstellen. Für zwei Neubauten lag die Baufreigabe vor, für den Umbau des historischen Hofes nicht. Trotzdem wurden letzte Woche wertvolle Teile des Murihofs abgebrochen. Wie es im Moment aussieht, illegal. Die historische Bausubstanz aus dem 17. Jahrhundert ist grossteils zerstört. Das dürfte in der durchreglementierten Schweiz eigentlich nicht vorkommen. Und trotzdem geschieht es immer wieder, dass historische Häuser «plötzlich» in Flammen aufgehen oder Bagger «aus Versehen» schützenswerte Bauten abreissen.
Es geht in einer boomenden Gemeinde wie Wettingen nicht darum, nostalgische Ballenberg-Fantasien auszuleben. Es geht darum, dass Gemeinden ihr historisches Gewissen nicht verlieren. Je grösser der Siedlungsdruck, desto mehr Feingefühl braucht es für das Alte. Die Gemeinde Wettingen hat eigentlich vorbildlich gehandelt, ihr Bauinventar aktualisiert und den Murihof ausführlich darin beschrieben. Und jetzt hat auch der Gemeinderat richtig reagiert und einen Baustopp verhängt. Aber eine Gemeinde ist immer auch auf den Anstand der Bauherren angewiesen. Das Beispiel zeigt nicht zuletzt, wie undurchsichtig das Geschäft mit Immobilien sein kann. Ein Rechtsstreit wird folgen. Doch der historische Murihof bleibt in seiner Gesamtheit für immer zerstört.
Im alten Wettinger Dorfkern, unweit der Sebastianskirche, klafft seit einer Woche eine Wunde im Baubestand. Der Murihof, ein Bauernhof aus dem Jahr 1640, wurde letzte Woche zu grossen Teilen abgebrochen. Auf dem Areal sollen 21 Eigentumswohnungen entstehen. Nun hat die Gemeinde Wettingen einen Baustopp verhängt, wie die «Limmatwelle» schreibt. Die Baufreigabe für zwei Neubauten und für den Abbruch des Nebengebäudes lag zwar vor. Die Baufreigabe für den geplanten Umbau des historischen Bauernhofs wurde allerdings noch nicht erteilt.
Der Murihof ist als schützenswertes Gebäude im Bauinventar der Gemeinde Wettingen eingetragen. Das heisst, es steht nicht unter explizitem Denkmalschutz, aber die Bauherrschaft muss Umbauten mit der Gemeinde absprechen. Erst vor einem Jahr hat Wettingen das Bauinventar aktualisiert und erweitert. In diesem Fall nun hat die Bauherrschaft vollendete Tatsachen geschaffen und grosse Teile des schützenswerten Baudenkmals abgerissen, darunter eine wertvolle Holzwand zwischen Wohnhaus und Scheune.
Wie konnte es so weit kommen?
Als Verkäufer der neuen Häuser wirbt das Wettinger Immobilienbüro von Max Selinger auf einem grossen Plakat und mit einem Verkaufspavillon im Vorgarten des ehemaligen Bauernhauses. Selinger verweist auf Anfrage an die Bauherrschaft, er sei nur für den Verkauf zuständig. Als Bauherrin fungiert die Firma Atai AG, die ihren Sitz in einem Bürogebäude mit vielen Briefkästen in der Zuger Innenstadt hat.
Die Firma wurde 2007 im schwyzerischen Freienbach unter dem Namen «The Winner’s Institute» gegründet. Als Zweck des Unternehmens wurde im Handelsregister unter anderem Folgendes aufgelistet: «Coaching, physiologische und psychologische Leistungsförderung nach neusten Erkenntnissen der Neurowissenschaften». Mittlerweile hat die Firma die Besitzer und den Zweck gewechselt. Die Bauherrschaft war für die AZ gestern für eine Stellungnahme nicht erreichbar.
Hof wurde vom Kloster Muri gebaut
Das Baugesuch für den Murihof lag im Juni 2015 öffentlich auf. Darin hiess es: «Abbruch Nebengebäude, Um- und Anbau bestehender Liegenschaft.» Urs Heimgartner, Leiter der Wettinger Bau- und Planungsabteilung, erklärt auf Nachfrage: «Die Baubewilligung lag vor, aber sie drohte abzulaufen.» Für die beiden neuen Mehrfamilienhäuser hinter dem Murihof wurde deshalb auf Ansuchen der Bauherrschaft die Baufreigabe erteilt. Für den historischen Murihof fehlte diese aber, weil es kein Konzept gab, wie man mit der schützenswerten Bausubstanz umgeht.
Der Hof wurde 1640 vom Kloster Muri erstellt. Das Benediktinerkloster war in Wettingen begütert. Der Murihof ist bis heute im Verwaltungsarchiv des Klosters Muri-Gries in Südtirol verzeichnet, wo der Konvent sich nach der Auflösung der Aargauer Klöster im 19. Jahrhundert niederliess. Im Archiv ist zu lesen, dass das Wettinger Muri-Gut 1612 von Abt Johann Jodok Singisen gekauft wurde. Es umfasste bald zwei Häuser sowie gut elf Jucharten Land und Reben am Scharten. Abt Singisen gilt aufgrund seiner grossen Verdienste als «zweiter Stifter» des Klosters Muri.
Im 20. Jahrhundert wurde der Murihof von den neuen Besitzern modernisiert, im Wohntrakt war seither nicht mehr viel von der historischen Bausubstanz übrig. Im Wettinger Bauinventar heisst es aber: «Der Murihof ist ein wichtiger Zeuge der Herrschaftsgeschichte und des ländlichen Hausbaus der Gemeinde.» Auf dem Kellerportal zu dem erhaltenswerten Gewölbekeller waren bis zuletzt das Baudatum und die Wappen von Muri und von Singisen abgebildet.
Ob das Portal jetzt nach dem Abbruch noch steht, ist unklar. Ebenso erhaltenswert waren der originale Dachstock aus dem 17. Jahrhundert und die alte Ständerwand zwischen Hausteil und Scheune. Die Ständerwand und die Scheune wurden von den Bauarbeitern komplett abgebrochen, das Holz wurde abtransportiert.
Vermutlich illegal
«Viel von dieser historischen Bausubstanz hätte erhalten werden müssen», sagt Urs Heimgartner. Die Bauverwaltung habe das Gebäude zum Zeitpunkt der Erteilung der Baubewilligung begutachtet. Es habe keine gravierende Mängel gegeben, die einen Abriss nötig machten. Die Zusammenarbeit mit der Bauherrschaft sei im Vorfeld gut gewesen. Umso überraschender sei für ihn deshalb der Abriss gewesen.
So schnell wie möglich müsse jetzt der verbliebene Hausteil geschützt werden, um Fäulnis oder Schimmel zu verhindern. «Der Wettinger Gemeinderat ist der Auffassung, dass das Vorgehen illegal war», hält Heimgartner fest. So drastisch werde selten gegen Bauvorschriften verstossen. Der Baustopp wurde als polizeiliche Verfügung von der Abteilung Bau und der Regionalpolizei durchgesetzt.
Die Bauherrschaft hat nun 20 Tage Zeit, eine Stellungnahme abzugeben. Danach muss der Gemeinderat entscheiden, wie es weitergeht. Eine Möglichkeit wäre das Verhängen einer Busse und ein Weiterbau unter Auflagen, bis hin zum Wiederaufbau der historischen Bausubstanz. Eine andere Möglichkeit ist eine Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft.