
Illegale Medikamententests im Aargau – die Regierung will das Thema aufarbeiten
Das Ausmass ist erschreckend: An der Psychiatrischen Klinik in Münsterlingen TG wurden zwischen 1946 und 1980 an mindestens 3000 Patientinnen und Patienten Medikamente getestet. 36 Personen starben während oder kurz nachdem ihnen die Substanzen verabreicht worden waren.
Die Patientinnen und Patienten wurden nur selten über die Testsubstanzen aufgeklärt. Das zeigt eine Untersuchung, die Historikerinnen und Historiker der Universität Zürich im Auftrag der Thurgauer Regierung durchgeführt haben. Die Ergebnisse der Studie wurden am letzten Montag vorgestellt.
Unterlagen von Pharmafirmen belegen Versuche im Aargau
Das geht aus Unterlagen von Pharmafirmen hervor», sagt Marietta Meier, Studienautorin und Titularprofessorin für Geschichte der Neuzeit an der Uni Zürich, auf Anfrage der AZ. Gewisse Substanzen, die in Münsterlingen getestet wurden, sind also auch in den Aargau geliefert worden.
Dass es auch in Aargauer Institutionen Medikamentenversuche gab, hat SP-Grossrat Florian Vock vermutet. «Der Umfang, der Ablauf und die Umstände sind aber noch weitgehend unklar», so Vock. In einem Postulat, das er im März im Grossen Rat eingereicht hatte, forderte Vock den Regierungsrat daher auf, eine unabhängige wissenschaftliche Studie in Auftrag zu geben. Diese sollte die Frage von Medikamentenversuchen in psychiatrischen Kliniken sowie heilpädagogischen Schulen und Heimen im Aargau im vergangenen Jahrhundert untersuchen und gegebenenfalls aufarbeiten.
Mit seinem Anliegen hat Vock offene Türen eingerannt. Der Regierungsrat ist bereit, das Postulat entgegenzunehmen. Der Grosse Rat hat dieses stillschweigend überwiesen. In seiner Antwort hält der Regierungsrat fest, die psychiatrische Geschichte des Kantons sei noch nicht systematisch aufgearbeitet.
Gleich verhalte es sich mit der Geschichte der Betreuungseinrichtungen. «Eine solche Aufarbeitung wäre für den Kanton Aargau jedoch gerade in Anbetracht der prägenden und historischen Rolle der Psychiatrischen Klinik Königsfelden von Bedeutung», heisst es in der Antwort.
Das Departement Gesundheit und Soziales nahm im letzten Herbst – also bevor Vock sein Postulat eingereicht hatte – Kontakt mit den Psychiatrischen Diensten Aargau (PDAG) auf, um die Ausgangslage für ein Forschungsprojekt auszuarbeiten. Die Psychiatrischen Dienste haben danach zusammen mit unabhängigen Experten ein Vorgehenskonzept erarbeitet. Inzwischen liege ein Grobkonzept zum Vorgehen vor, teilt das Departement auf Anfrage mit. Dieses sei dem Regierungsrat allerdings noch nicht zum Beschluss vorgelegt worden.
Königsfelden verfügt über ein umfassendes Archiv
Wie die Aufarbeitung im Aargau konkret angegangen wird, ist im Moment also noch nicht spruchreif. Marietta Meier findet es wissenschaftlich nicht sinnvoll, dass jeder Kanton die Aufarbeitung der Medikamentenversuche separat aufgleist. «Besser wäre ein nationales Forschungsprojekt.
So könnten Ressourcen gebündelt und Synergien genutzt werden», sagt Meier. Kantonsgrenzen hätten für die Medikamententests beziehungsweise die Netzwerke der darin involvierten Pharmakonzerne, Ärzte und Institutionen keine Rolle gespielt. Ausserdem könnte man bei einem nationalen Projekt bei Pharmafirmen nicht nur um Einsicht in Akten ersuchen, die eine bestimmte Klinik betreffen.
Im Aargau ist die Quellenlage gut. Grossrat Florian Vock hält in seinem Vorstoss fest, die Psychiatrischen Dienste verfügten über ein «nahezu umfassendes Archiv seit der Gründung im Jahr 1872». Das sei schweizweit einzigartig. Das Archiv beinhalte neben Geschäftsberichten und Jahresabschlüssen auch Krankengeschichten von Patientinnen und Patienten sowie Behandlungsdokumentationen.
Unklarer ist die Datenlage bei den Betreuungseinrichtungen. Mit Ausnahme der heilpädagogischen Tagessonderschulen hätten diese eine privatrechtliche Trägerschaft, hält der Regierungsrat in seiner Antwort fest. Trotzdem begrüsst er, dass die Frage von Medikamentenversuchen auch in den Betreuungseinrichtungen untersucht und aufgearbeitet werden soll. «Es ist leider gut möglich, dass auch Menschen mit Behinderung – insbesondere bei kognitiver oder psychischer Beeinträchtigung – von Medikamentenversuchen betroffen waren.»