Im Aargau entwickeln sich die Corona-Zahlen nicht wie gewünscht – wirken die Massnahmen noch?

In der Deutschschweiz ist der Umgang mit dem Coronavirus spürbar lockerer geworden. Viele Menschen scheinen sich daran gewöhnt zu haben, dass die Fallzahl in der Schweiz beständig sinkt. Im Ständerat spielte am Montag sogar ein Ländlerquartett auf.

Doch der Rückgang der Fallzahl trügt. Die Schweiz verdankt den Trend primär den Westschweizer Kantonen, die das öffentliche Leben grösstenteils still gelegt haben. In anderen Kantonen stagniert der Abwärtstrend – oder die Zahlen steigen sogar wieder.

Im Aargau fand vor zwei Wochen eine Trendwende statt. Seither meldet der Kanton wieder tendenziell mehr Neuinfektionen. Am Dienstag waren es 320, rund ein Viertel mehr als eine Woche zuvor. Die Zahl der Todesfälle ist seit vier Wochen deutlich erhöht und es müssen noch immer mehr Erkrankte ins Spital, als wieder rauskommen. Die Wirkung der bundesrätlichen Massnahmen und Aufrufe scheint verflogen zu sein.

Vor den Festtagen braucht es einen stärkeren Rückgang

Fachleute warnen ob dieser Entwicklung. «In der Deutschschweiz schaffen wir mit den Massnahmen und deren Umsetzung momentan nur eine Stabilisierung auf sehr hohem Niveau», sagt Tanja Stadler, Biostatistikerin an der ETH Zürich, zum «Tages-Anzeiger». Sie erklärt sich den Trend damit, dass die Bevölkerung die Massnahmen nicht mehr konsequent genug umsetzt.

Im Hinblick auf die Festtage ist das heikel. Über Weihnachten werden die Menschen vermehrt zusammenkommen. Das weiss man auch beim Bundesamt für Gesundheit (BAG): «Wir gehen auf die Festtage zu. Da brauchen wir einen stärkeren Rückgang», sagte Virginie Masserey, Chefin der Infektionskontrolle beim BAG, am Dienstag an einer Medienkonferenz.

Kritischer Wert im Aargau zu hoch

Wenig Hoffnung gibt im Aargau ein Blick auf die Reproduktionszahl, kurz R-Wert. Er zeigt an, wie stark sich das Virus in der Bevölkerung ausbreitet. Von den zehn bevölkerungsreichsten Kantonen hat der Aargau den höchsten R-Wert.

In der aktuellsten Berechnung weist der Aargau einen R-Wert von 1,09 auf. Das heisst: 100 Menschen stecken 109 weitere an. Liegt der Wert über eins, breitet sich das Virus aus. Liegt er unter eins, nimmt die Zahl der Neu-Ansteckungen ab.

Deutlich besser als der Aargau steht die Romandie da. Die grossen Westschweizer Kantone bilden den Schluss der Tabelle.

Wie funktioniert der R-Wert?

Der R-Wert begann im Aargau vor zehn Tagen zu stagnieren. Allerdings muss er noch deutlich sinken, damit der Kanton das Ziel der Covid-Taskforce des Bundesrats erreicht: eine Halbierung der Fallzahl alle zwei Wochen. Sie tritt gemäss «Tages-Anzeiger» ein, wenn der R-Wert bei 0,8 liegt. Seit der Bundesrat am 28. Oktober strengere Massnahmen verhängte, lag er im Aargau aber nie tiefer als 0,9. Bei diesem Wert dauert es einen Monat, bis sich die Fallzahl halbiert.

Bei Verdacht umgehend testen lassen

Warum sich jüngst wieder mehr Aargauerinnen und Aargauer angesteckt haben, kann der Kantonsärztliche Dienst nicht sagen. Die Hauptansteckungsorte seien weiterhin im privaten Umfeld zu finden: bei Freunden, in der Familie und an privaten Anlässen. Infektionsausbrüche habe es aber auch an Arbeitsorten gegeben, etwa in Verteilzentren, Logistikunternehmen sowie Sozial- und Pflegeinstitutionen.

Der Verlauf der Fallzahl sei seit zwei Wochen wechselhaft. Ein eindeutiger Trend sei nicht festzustellen, teilt Kantonsärztin Yvonne Hummel mit. Das Departement Gesundheit und Soziales beobachte den Verlauf genau und werde je nach Situation Massnahmen ergreifen. Welche Verschärfungen allenfalls zur Diskussion stehen, beantwortet sie nicht.

Damit die Fallzahl sinkt, müssen Infektionsketten wieder schneller unterbrochen werden. Das heisst, Infizierte müssen sich rasch in Isolation begeben. «Deshalb sollen sich Personen bei Auftreten von Symptomen umgehend testen lassen», schreibt Hummel. Es seien genügend Testkapazitäten vorhanden.

Im Aargau kann man sich in allen Akutspitälern testen lassen. Weitere Testcenter wie Arztpraxen und Apotheken führen ebenfalls Tests durch.