Irène Kälin: «Grüne Politik hat für mich mehr als eine Farbe»

In einer Woche sitzt Irène Kälin noch im Grossen Rat in Aarau, in einem Monat nimmt sie schon an der Wintersession des Nationalrats in Bern teil. Die 30-jährige Grünen-Politikerin hätte nicht mit diesem Verlauf ihrer Politkarriere gerechnet, fühlt sich aber bereit für Bundesbern.

Frau Kälin, Sie rutschen für Jonas Fricker in den Nationalrat nach – finden Sie es richtig, dass er zurückgetreten ist?
Irène Kälin: Jonas selber hat in seinem Rücktrittschreiben geschrieben, dass es dieses starke Zeichen in einer Zeit, in welcher menschenverachtende Politik wieder salonfähig ist, braucht. Das ist in meinen Augen sehr konsequent und verdient meinen Respekt.

War für Sie immer klar, dass Sie das Amt als Nationalrätin annehmen?
Ich hatte mir diese Frage vor dem Rücktritt von Jonas Fricker nie gestellt. Aufgrund seines Alters bin ich davon ausgegangen, dass er wohl zwei oder drei Legislaturen im Nationalrat machen würde. Deshalb habe ich mich für die nächsten Jahre nicht als Nationalrätin gesehen.

Wer nachrutscht, war nicht erste Wahl, auf diese Weise einen Sitz zu gewinnen, hat einen Beigeschmack.
Das sehe ich nicht so, gerade in kleinen Parteien ist Nachrutschen üblich. Meist ist es ja nicht so, dass jemand wegen einer unhaltbaren Äusserung oder aus ähnlichen Gründen zurücktritt. Häufiger kommt es vor, dass ein Politiker vor Ende der Legislatur sein Amt zur Verfügung stellt, damit die Nachfolgerin Zeit hat, sich zu profilieren und als Bisherige antreten kann.

Wie haben Sie eigentlich von Jonas Frickers umstrittenem Vergleich im Nationalrat erfahren?
Ich habe von Daniel Hölzle (Präsident der Aargauer Grünen, die Redaktion) eine Whatsapp-Nachricht erhalten. Er schrieb, dass Jonas wohl etwas Dummes gesagt habe. Ich war gerade in der Uni-Bibliothek, weil ich an meiner Masterarbeit bin, und war dann für ein paar Stunden offline. Als ich nachher auf mein Handy schaute, habe ich realisiert, dass Jonas einen inakzeptablen Vergleich angestellt hatte.

Hätten Sie damit gerechnet, dass Jonas Fricker deshalb zurücktritt?
Es war ein unzulässiger Vergleich, den er gemacht hat. Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass er darum zurücktritt. Mir war bewusst, dass es Stimmen in der Partei gibt, die einen Rücktritt verlangten, wie zum Beispiel Jo Lang, aber letztlich entscheidet ja zu Recht der Betroffene selber – und das hat Jonas klar und konsequent getan.

Tierschutz gehört nicht zu Ihren politischen Schwerpunkten. Sie hätten sich also nicht zur FairfoodInitiative geäussert – und auch nicht in der Form wie Fricker?
Mit grösster Wahrscheinlichkeit nicht, wobei mir klar ist, dass man als neues Mitglied einer Fraktion auch Themen zugeteilt bekommt. Ich bin sehr für Tierschutz, aber: Der Vergleich, den Jonas gemacht hat, hinkt nicht nur, sondern ist unhaltbar. Mit meinem Hintergrund als Religionswissenschafterin gehe ich davon aus, dass mir keine solche Aussage unterlaufen würde.

Sie profitieren von Frickers Rücktritt. Es gibt Stimmen, die sagen, Ihr Partner Werner De Schepper, CoChefredaktor der Schweizer «Illustrierten», habe dazu beigetragen.
Diese Verschwörungstheorie ist eine Beleidigung für mich und meinen Partner. Und für den «Blick», der sich von niemandem seine Berichterstattung diktieren lässt. Es ist absurd, hier eine geheime Agenda zu vermuten.

Schmerzt es Sie, wenn Sie derartige Vorwürfe zu hören bekommen?
Nochmals: Solche Verschwörungstheorien sind nicht der Rede wert, denn sie haben weder Hand noch Fuss.

Unabhängig davon ist es ungewöhnlich, dass Sie als 30-jährige Frau mit einem 52-jährigen Mann zusammen sind …
Als unsere Beziehung noch frisch war, hat mich das selber mehr beschäftigt als heute, ich wurde auch öfter darauf angesprochen. Grundsätzlich machen Leute in meinem Alter die grösseren Fragezeichen als jene, die im Alter meines Partners sind. Manchmal werden wir auf der Strasse schon schräg angeschaut, weil man den Altersunterschied sieht. Da braucht es eine dicke Haut, aber das gehört zu einer solchen Beziehung. Man sucht sich ja einen Partner nicht immer aus, sondern die Liebe fällt eben dorthin, wo sie fällt.

Zurück zur Politik: Sie gelten als rot-grün, im Gegensatz zu Jonas Fricker, der als öko-grün gilt. Grundsätzlich stimmt das, ich habe mich im Grossen Rat im Aargau aber auch sehr mit grün-grünen Themen befasst, wie zum Beispiel dem Atomausstieg oder als VCS-Vorstandsmitglied auch mit der Verkehrspolitik. Aufgrund meiner Ausbildung sehe ich meine politischen Schwerpunkte heute aber stärker bei Migrations- und Integrationsfragen. Gründe Politik hat für mich mehr als eine Farbe.

In einer Woche tagt der Grosse Rat im Aargau wieder – wie lange sind Sie noch dabei?
Ich werde so ange im Grossen Rat dabei sein, wie dies möglich ist. Auf keinen Fall werde ich ein Doppelmandat ausüben. Aber Maurus Kaufmann, der mein Nachfolger wird, ist momentan noch Kantilehrer. Er erteilt am Dienstag, wenn der Grosse Rat tagt, sieben Lektionen. Zudem steht die Budgetdebatte an, da werde ich als Fraktionspräsidentin noch dabei sein, bis ich nach Bern muss.

Wer übernimmt das Fraktionspräsidium, wenn Sie nach Bundesbern in den Nationalrat wechseln?
Das ist noch offen, weil die Entwicklung nun ziemlich kurzfristig und für alle überraschend gekommen ist. Für mich war immer klar, dass ich nicht die ganze Legislatur lang das Fraktionspräsidium ausüben würde. Jetzt braucht es halt eine Hauruck-Übung, um innerhalb von drei Wochen eine Nachfolge zu finden.

Am 27. November beginnt die Wintersession im Nationalrat – haben Sie die Unterlagen schon erhalten? Nein, ich habe noch nichts erhalten, aber das ist offenbar normal. Zuerst mussten Bund und Regierungsrat die formelle Vakanz nach dem Rücktritt von Jonas feststellen und dann meine offizielle Nachfolge. Zudem muss man bei einem Nationalratsmandat keine Wahlannahme-Erklärung unterschreiben. Die jeweils folgende Person auf der Liste gilt nach einem Rücktritt automatisch als gewählt.

Wo wohnt eigentlich Irène Kälin? In Lenzburg, wo Sie gemeldet sind, in Bern, wo Sie studieren, oder in Oberflachs, wo Ihr Partner ein Haus gekauft hat?
Ich wohne in Lenzburg, bin jedoch Wochenaufenthalterin in Bern, weil ich an meiner Masterarbeit schreibe und froh war, wenn ich ab und zu dort übernachten konnte. Und natürlich geniesse ich ab und zu jetzt auch eine Prise Landluft in Oberflachs.

«20 Minuten» schrieb, wegen der Studienzeitbegrenzung müssten Sie die Masterarbeit in diesem Semester abgeben – schaffen Sie das?
Da hat «20 Minuten» etwas zugespitzt – aber es stimmt, ich habe mich für die Masterarbeit angemeldet, dafür gibt es gewisse Fristen. Und ich habe das Ziel, diese auch einzuhalten.

Sie befassen sich in der Arbeit mit der öffentlich-rechtlichen Anerkennung des Islam. Die SVP hat sich an ihrem Parteitag am Samstag dagegen ausgesprochen und Nulltoleranz gegen Islamisten gefordert.
Die SVP betreibt bei diesem Thema eine scheinheilige Symbolpolitik. Sie kritisiert, dass die Imame kein Deutsch sprechen, die Geldflüsse der islamischen Vereine in der Schweiz intransparent seien und die Moscheen nicht genügend streng kontrolliert würden. Doch genau das würde mit kantonalen Anerkennungs-Gesetzen geregelt. Deshalb verstehe ich nicht, warum die SVP sich so dagegen sträubt.

Die SVP setzt stattdessen auf mehr Überwachung, zum Beispiel bei Predigten in den Moscheen.
Wenn man mit Spionen und nachrichtendienstlichen Methoden arbeitet, zerstört man das Vertrauen erst recht. Die überwältigende Mehrheit der Muslime in der Schweiz sind unbescholtene Bürgerinnen und Bürger, sie unter Generalverdacht zu stellen, ist falsch.

Sie können aber nicht abstreiten, dass der radikale Islamismus ein Problem darstellt.
Das bestreite ich nicht, aber wenn man immer das betont, was schlecht läuft, löst man keine Probleme. Gerade das Anerkennungsmodell ist eine schweizerische Errungenschaft, die sich sehr bewährt hat. Es hat uns zum Beispiel den Religionsfrieden zwischen Katholiken und Reformierten gebracht.

Heftig diskutiert wird auch das Burkaverbot. Sie sind Feministin, aber gegen ein solches Verbot – wie passt das zusammen?
Die Burka existiert in der Schweiz ja gar nicht, ausser ein paar Touristinnen und zum Islam konvertierten Frauen trägt sie niemand. Es ist völlig absurd, anhand von vielleicht zehn Fällen darüber zu diskutieren, ob die Burka ein Symbol der Unterdrückung ist. Es gibt andere Themen in diesem Land, die für Frauen wirklich problematisch sind: die massiven Lohnunterschiede, zu wenig Geld für Frauenhäuser, häusliche Gewalt…

Auf Ihrer Website steht, Sie akzeptierten nicht, dass Frauen 18 Prozent weniger verdienen als Männer. Wie wollen Sie dies ändern, sollen Firmen ihre Löhne offenlegen?
Natürlich sollen die Unternehmen die Löhne offenlegen, wir haben nun über 30 Jahre lang auf Freiwilligkeit gesetzt, dabei gab es nur minime Fortschritte. Es ist Zeit für eine verbindliche Regelung – ob das ein Bonus-Malus-System für Firmen oder eine andere Lösung ist, ist dabei nebensächlich.

Sind Sie für eine Frauenquote in der Führungsetage von Firmen und Verwaltungen?
Vor zehn Jahren hätte ich Nein gesagt, weil ich Quoten grundsätzlich unsympathisch finde und mir nie hätte vorstellen können, eine Quotenfrau zu sein. Heute bin ich der Überzeugung, dass es eine solche Quote – zumindest als Übergangsregelung – leider braucht. Bisher hat sich leider viel zu wenig getan, damit Frauen auch in Führungspositionen stärker vertreten sind.

SVP-Nationalrat Andreas Glarner bezeichnete Sie kürzlich als «typische Linke, die noch nie im Leben ihr eigenes Geld verdient hat».
Mich trifft diese Aussage nicht, aber es erstaunt mich, dass ein älterer Mann und Patron eines Unternehmens das Gefühl hat, er könne dies einer jungen Frau einfach so vorwerfen. Andreas Glarner weiss genau, dass ich zum Beispiel als Sekretärin bei der Gewerkschaft Unia oder im Service gearbeitet habe. Natürlich habe ich wegen meines politischen Engagements länger studiert als andere, aber ich habe mein Geld immer selber verdient.

Noch ein Glarner-Zitat: Er geht davon aus, dass Sie schon ruhiger werden, wenn Sie sehen, «dass man im Nationalrat hart arbeiten muss».
Ich habe persönlich nicht den Eindruck, dass Andreas Glarner viel ruhiger und leiser geworden ist, seit er im Nationalrat sitzt. Natürlich ist mir bewusst, dass man in der Politik arbeiten muss, dass müssen wir auch im Grossen Rat. Ich glaube aber nicht, dass es etwas mit laut oder leise zu tun hat, wie viel man arbeitet.

Die SVP wirbt oft mit Heimatliebe, Sie sind laut Ihrer Website auch dafür. Aber für eine, die sich nicht in Beton und Strassen ergiesst. Soll die A1 im Aargau also nicht sechsspurig ausgebaut werden?
Nein, das soll sie nicht, auch wenn wir auf der Autobahn einen gewissen Engpass haben. Aber wir müssen uns jetzt überlegen, ob wir den Aargau vollständig zupflastern wollen. Dann sind wir eines Tages eine Betonwüste und ein reiner Durchfahrtskanton. Und dann müssen wir uns auch nicht beklagen, dass keine reichen Leute hier wohnen und Steuern zahlen wollen.

Ihre Gegner werden antworten, das könnten Sie als Politikerin leicht sagen, die von Lenzburg nach Bern pendelt und ein Generalabonnement geschenkt erhält.
Auch die Zugverbindungen nach Bern sind nicht immer super, zudem ist der Bahnhof in Lenzburg chronisch überlastet. Ich setze mich lieber für eine schnelle Sanierung des Bahnhofs Lenzburg ein, denn Bahnfahren ist umweltund platzschonender als Autobahnen bauen. Und ich bin gerne bereit den zweiten Teil des 1.-Klasse-Generalabonnements beizusteuern, das mir zur Verfügung steht, denn ich fahre aus Überzeugung 2. Klasse.