Jean-Pierre Gallati: «Rational gesehen bringt eine Maskenpflicht in Geschäften nichts»

Die Verfassung der DDR steht immer noch am gleichen Ort am Fenster von Jean-Pierre Gallatis Büro wie vor 20 Wochen, als der neue Gesundheitsdirektor das erste Interview im Amt gab. Das kleine graue Kommunistenwerk sticht heraus unter den Büchern vor allem über den Aargau. Er habe dieses zur Abschreckung aufgestellt, erklärte Gallati damals Mitte März. Diesmal lenkt er die Aufmerksamkeit auf einen Stapel frisch gedruckter Festschriften «100 Jahre SVP Aargau». «Nehmen Sie ruhig ein paar mit», sagt Gallati, bevor wir das Interview starten.

Fahren Sie trotz Maskenpflicht immer noch täglich mit Bus und Zug zur Arbeit?

Jean-Pierre Gallati: Ja (zieht eine Stoffmaske aus dem Jackett). Schön, oder?

Selbergenäht?

Nein, im Modeladen erworben.

Schützt sie auch oder ist sie eher pro forma?

Da müssen Sie die Virologen fragen.

Fällt es Ihnen schwer, eine Maske anzuziehen?

Ja. Ich ziehe sie an, weil es Pflicht ist. Tatsache ist, dass wir im Aargau bisher keine einzige Ansteckung hatten im öV.

Kann man das mit Bestimmtheit sagen?

Seit Mai machen wir die Statistiken und befragen Tausende. In den Schulen hatten wir seither im Aargau drei Ansteckungen, in den Verkaufsgeschäften null, im öV null.

Aber die grösste Kategorie, fast die Hälfte, sind ja die unbekannten Ansteckungsorte. Die könnten sich überall angesteckt haben, oder?

Das schon, aber dort, wo unter dem Strich keine Infektionen in der Statistik erscheinen, ist sicher nicht die Hauptquelle zu suchen. Die Hauptquellen sind Clubs, Grossveranstaltungen und Risikoländer, vor allem im Balkan. Man muss dort handeln, wo man die Probleme hat. Im ÖV haben wir keine.

 

Nach der Statistik-Panne beim BAG stellte sich heraus, dass die Clubs kein grosser Ansteckungsherd sind. Sie haben im Aargau Anfang Juli eine 100er-Grenze für Clubs eingeführt, was für einige die Schliessung bedeutete. Im Nachhinein: War das übers Ziel hinausgeschossen?

Am Anfang passierte nachweislich ein grosser Anteil der Ansteckungen in Clubs und Bars, auch in unserem Kanton. Wenn es dort jetzt weniger sind, vielleicht ja auch, weil die Massnahmen greifen. Wobei wir ehrlich gesagt zu wenig Daten haben, um das zu belegen.

Der Bund empfiehlt den Kantonen, Maskenpflicht auch in Läden einzuführen. Warum macht der Aargau da nicht mit?

Der Bund hat mehrere Dinge empfohlen: Sektoren bei Veranstaltungen. Hat der Aargau schon vorher gemacht. Zweitens, Clubs auf 100 Gäste beschränken, haben wir gemacht. Und als dritter Punkt Masken in Läden. Weil es bisher null Ansteckungen gab bei uns, brauchen wir das nicht. Die Leute sind in Läden nie länger als 15 Minuten nahe zusammen, darum gibt es keine Ansteckungen. Rational gesehen gibt es deshalb keine Veranlassung, eine Maskenpflicht in Verkaufsgeschäften einzuführen.

Infektiologen an den Kantonsspitälern sehen das anders: Maskenpflicht tue niemandem weh und könne ein Beitrag sein, Ansteckungen zu vermeiden. Liegen die Mediziner falsch?

In Läden nützt es einfach nichts, weil dort kein Problem vorhanden ist. Aber klar, sobald dort gehäuft Ansteckungen registriert würden, kann man Massnahmen ergreifen.

Warum gilt denn an Aargauer Schulen mit älteren Kindern jetzt Maskenpflicht, wenn doch auch dort kaum Ansteckungen registriert werden?

Im Gegensatz zum Einkaufen sitzen Schüler über längere Zeit zum Teil nahe beieinander. Darum hat das Bildungsdepartement in Absprache mit der Kantonsärztin Yvonne Hummel sich jetzt für diese Massnahme entschieden.

Corona ist für alle Neuland. Auf welcher Basis fällen Sie Entscheide? Allein auf die Experten hören Sie ja nicht, wie Sie deutlich machen.

Ich mache einfach eine nüchterne Lagebeurteilung und entscheide. Eines kann ich Ihnen sagen: Ich entscheide nie etwas, nur weil es die anderen machen, die anderen Kantone, das Ausland und schon gar nicht auf Druck der Medien. Öffentlicher Druck interessiert mich nicht. Ich schaue auch nicht auf Interessensverbände, nur auf Argumente. Ich entscheide so, wie ich es für richtig halte, oft auch nach Konsultation anderer Departemente und Gesundheitsdirektoren.

Am Mittwoch stehen wichtige Weichenstellungen in Bern an. Der Bundesrat entscheidet, ob das Verbot von Grossveranstaltungen mit über 1000 Personen gelockert wird. Wie haben Sie sich als Kantonsvertreter eingebracht?

Die grosse Mehrheit der Kantone will bei der 1000er-Grenze bleiben, sieben Kantone, darunter der Aargau, wollen eine Lockerung. Es geht ja nicht anders. Wir müssen mit Corona leben lernen. Wir werden die Fallzahlen nie auf null bringen, das wäre illusorisch.

Was schlagen Sie konkret vor zum Beispiel für Fussballspiele wie mit dem FC Aarau?

Bei solchen Outdoor-Veranstaltungen könnte man 30 bis 50 Prozent des Stadions füllen, Sektoren einführen, allenfalls mit nummerierten Plätzen sowie eine Maskenpflicht am Eingang und im Eingangsbereich, sicher aber nicht auf der Tribüne. Es braucht schweizweite Kriterien, eine Bewilligungspflicht sowie ein Alkoholverbot.

Wie schätzen Sie den Bundesrat ein? Wie wird er entscheiden?

Er wird eine Interessenabwägung machen. Eines ist klar: Wenn er bei der 1000er-Grenze bleibt, macht er den Profi-Sport und die Kultur kaputt.

Sie sagen, wir müssen mit Corona leben lernen. Die Coronakrise dauert nun schon ein halbes Jahr. Was ist Ihre grösste Erkenntnis aus dieser Zeit?

Es ist ein einzigartiges Phänomen. Wir haben es mit einem Problem zu tun, über das nicht mal die Fachleute sehr viel wissen. Vieles ist ungewiss. Zum Beispiel wissen wir immer noch nicht, ob jemand, der an Corona erkrankt war, nachher wirklich immun ist.

Zum Beispiel Ihre Regierungsratskollegen Urs Hofmann, Markus Dieth und Stephan Attiger, die alle positiv waren und im Falle von Urs Hofmann auch schwer erkrankten. Kommen Sie Ihren Kollegen also vorsichtshalber weiterhin nicht zu nahe?

Bis vor einer Woche war ich in den Ferien und sah sie deshalb länger nicht mehr. Ausser Urs Hofmann, dem ich kürzlich begegnete. Natürlich gilt weiterhin Distanzhalten. Es kann ja auch sein, dass eine geheilte Person nicht erneut erkrankt, aber wieder ansteckend ist. Das weiss man alles noch nicht.

Was schätzen Sie heute anders ein als zu Beginn des Lockdowns?

Wir dachten damals alle, es kämen italienische Verhältnisse mit 5 Prozent Mortalitätsquote auf uns zu. Davon sind wir weit entfernt. Das ist erfreulich.

Weil die Einschätzung falsch war oder die Schweiz richtig reagiert hat?

Sicher ist unser Gesundheitssystem vergleichsweise top. Und es gibt auch Unterschiede in der physischen Konstitution der Bevölkerung. Die vielen Toten in den USA haben vielleicht auch mit den überdurchschnittlich vielen Übergewichtigen dort zu tun.

Im Moment sind die Spitäler kaum belastet mit Coronapatienten. Ihr Parteifreund und SVP-Sekretär Pascal Furer kritisiert, es schüre unnötig Panik, wenn man täglich die Anzahl Neuansteckungen publiziere, entscheidend seien allein die Hospitalisierungen. Teilen Sie seine Kritik?

Das Hauptziel ist tatsächlich, die Spitäler nicht überzubelasten mit Coronafällen. Das gerät manchmal in den Hintergrund. Darum geht es, da hat Pascal Furer recht.

Was für Rückmeldungen bekommen Sie aus der Bevölkerung zu Ihrer Coronapolitik?

Viele positive. Aber vielleicht deshalb, weil sich Kritiker weniger melden.

Es gibt auch Leute, die behaupten, Corona gäbe es gar nicht, das sei alles eine Verschwörung. Bekommen Sie auch solches Feedback?

Nein.

Sie halten am Freitag bei einem Podium in Aarau mit Gegnern der Coronazweiflern eine Ansprache. Sagten Sie zu, weil das auch Platz haben darf, oder haben Sie gar Sympathien für deren Haltung?

Beides. Wenn jemand sagt, Corona gebe es nicht, dann versuche ich halt mit ihm über Zahlen, über die Realität zu reden. Und wenn er sagt, die behördlichen Massnahmen seien übertrieben, werde ich auch mit ihm reden und ihm teilweise vielleicht sogar recht geben. Grundsätzlich rede ich mit allen. Ich gehe ja auch an Versammlungen der Grünen oder der Armeeabschaffer, wenn sie mich einladen.

Für einige ist auch die Corona-App des Teufels. Haben Sie sie runtergeladen?

Nein, ich habe noch ein älteres Natel. Meine Tochter hat mir das demonstriert. Sobald ich ein neues habe, lade ich die App runter. Aber die Diskussion ist übertrieben. Die App ist ein Hilfsmittel beim Contact-Tracing, mehr nicht.

Und das Contact-Tracing selbst funktioniert?

Das Contact-Tracing ist jetzt leistungsfähig im Aargau. Die Erkrankten erkennen und isolieren ist zentral, das ist die Strategie des Bundes.

In Ihrem ersten halben Amtsjahr waren Sie vor allem mit Corona beschäftigt. Welche wichtigen Geschäfte sind liegen geblieben?

Es verzögert sich das eine oder andere vielleicht, aber es wird normal gearbeitet.

Was steht an im Tagesgeschäft ausser Corona?

Nächsten Mittwoch bringe ich 19 Geschäfte in den Regierungsrat. Das ist ein Rekord meines Departements, wie Generalsekretär Campi sagt. Auch zuvor «lieferten» wir: etwa die Prämienverbilligung oder Gesetze im Bereich Gebäudeversicherung und Spital. Während Corona hat mein Departement zudem viele Vorstösse aus dem Grossen Rat beantwortet.

Im Oktober entscheidet sich, ob Sie weiterregieren dürfen. Es stehen Wahlen an. Nehmen Sie das Plakat vom letzten Jahr aus dem Keller, als Sie mit dem Spruch «Gsondheit» die Wähler ansprachen? Damals klang das etwas banal, aber jetzt hat das plötzlich eine tiefere Bedeutung.

Nein, banal wäre, nochmals das gleiche Motto zu bringen. Und diesmal machen Alex Hürzeler und ich gemeinsam Wahlplakate. Ich kann ja nicht gross «Gsondheit» schreiben, wenn daneben der Bildungsdirektor steht. (lacht)

Gewählt wird bald auch der neue SVP-Präsident Schweiz. Marco Chiesa soll es werden. Wie gut kennen Sie ihn?

Ich hatte zwei-, dreimal mit ihm gesprochen, als er im Dezember als neuer Ständerat und ich als neuer Nationalrat in Bern waren. Ein flotter Typ.

Hätten Sie lieber Ihren Parteifreund Andreas Glarner gesehen als SVP-Präsident Schweiz?

Er wäre sicher ein guter Parteipräsident geworden. Aber so ist es fast noch besser, sonst wäre er ja zwangsläufig nicht mehr Kantonalpräsident.

Das hatte Glarner anders angekündigt. Er hätte beide Ämter gleichzeitig machen wollen.

Das wäre natürlich nicht möglich gewesen, das schafft auch Andy Glarner nicht.