
Justiz stellt «eklatante Organisationsmängel» im Kantonalen Sozialdienst fest
Ende November hat die Staatsanwaltschaft Büros des Kantonalen Sozialdienstes, der zum Departement Gesundheit und Soziales gehört, durchsucht. Hintergrund waren laufende Strafverfahren gegen eine Mitarbeiterin des Sozialdienstes und einen Mitarbeiter des kantonalen Migrationsamtes, das zum Departement Volkswirtschaft und Inneres gehört.
Benno Straumann, der sich als Freiwilliger für Flüchtlinge im Kanton Aargau engagiert, hat die beiden angezeigt. Er warf ihnen vor, Ruslan Nachchaev, einem abgewiesenen Flüchtling aus Tschetschenien, eine medizinisch dringend notwendige Harnblasenoperation verweigert zu haben. Stattdessen sollen sie die Ausschaffung des Tetraplegikers nach Russland vorangetrieben haben.
Die Staatsanwaltschaft hat aufgrund der Anzeige zwei Verfahren wegen Verdachts auf Aussetzung eröffnet. Der Aussetzung macht sich zum Beispiel schuldig, wer einen Hilflosen, für den er zu sorgen hat, einer Gefahr für das Leben oder einer schweren unmittelbaren Gefahr für die Gesundheit aussetzt oder ihn in einer solchen Gefahr im Stich lässt. Als Täterin oder Täter kommt nur infrage, wer eine Garantenstellung für das Leben und die Gesundheit der hilflosen Person hat – wer also verpflichtet ist, sie vor einer eintretenden Gefahr zu schützen.
Ein Arzt entlastet die beiden Beschuldigten
Die Mitarbeiterin des Kantonalen Sozialdienstes ist laut Stellenbeschrieb dafür zuständig: Sie muss die medizinische Versorgung ihrer Klientinnen und Klienten organisieren, sicherstellen, genehmigen oder zur Genehmigung weiterleiten. Sie betreute auch den Fall von Ruslan Nachchaev – käme also aufgrund ihrer Funktion und den damit verbundenen Aufgaben als Täterin infrage. Trotzdem hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt.
Dies aus zwei Gründen. Erstens hat ein leitender Arzt die Beschuldigte entlastet. Er führte als Zeuge aus, dass die medizinische Situation des Tschetschenen zwar «sehr unbefriedigend» gewesen sei, eine Notsituation allerdings nie vorgelegen habe und er nie in Lebensgefahr geschwebt sei. Der ursprünglich vorhandene Anfangsverdacht liess sich somit nicht erhärten.
Unterbesetzte Abteilung und unvollständige Dokumentation
Der zweite Grund für die Einstellung des Verfahrens ist komplizierter. Er hat mit Organisationsmängeln im Kantonalen Sozialdienst zu tun und war letztlich auch der Auslöser für die Hausdurchsuchung. Die Mitarbeiterin hat in der Einvernahme ausgeführt, dass sie aus gesundheitlichen Gründen längere Zeit abwesend gewesen sei und nach ihrer Rückkehr nur in einem reduzierten Pensum gearbeitet habe. Entsprechend sei sie nur bis im März 2018 für den Fall verantwortlich gewesen und wisse auch nicht, auf wen die Verantwortung danach übergegangen sei. Obwohl die Staatsanwaltschaft mehrmals nachgefragt hatte, konnte sie dazu keine Angaben machen.
Sie führte stattdessen aus, dass zu jener Zeit bis zu 70 neue Fälle pro Tag eingegangen seien und ihre Abteilung mit 150 Stellenprozenten derart unterbesetzt gewesen sei, dass man einfach habe «zuschaffen» müssen. Sie wisse auch nicht mehr, ob sie die Entscheidung getroffen habe, dass die ursprünglich auf April 2018 geplante Operation abgesagt worden sei, gab die Frau zu Protokoll. «Solche Informationen seien normalerweise in der Falldokumentation vermerkt, vorliegend habe man es wohl vergessen, den entsprechenden Eintrag vorzunehmen», wird sie in der Einstellungsverfügung zitiert.
Hausdurchsuchung brachte weitere Mängel ans Licht
Auf die Staatsanwaltschaft machte die Beschuldigte «einen stark überforderten Eindruck». In der Einstellungsverfügung ist von «eklatanten Organisationsmängeln» im Kantonalen Sozialdienst die Rede. Zudem heisst es darin, dass die Informationslage nach der Einvernahme «noch diffuser» gewesen sei als zuvor. Die Staatsanwaltschaft entschied sich für eine Hausdurchsuchung. Allerdings gestaltete sich auch diese nicht ganz einfach: Es wurden «weitere Organisationsmängel» festgestellt. Bereits die Grobsichtung der Papierakten zum Fall habe sich schwierig gestaltet, weil Teile der Akten zuerst von Aussenstandorten herbeigeschafft werden mussten. Zudem habe das elektronische Netzlaufwerk eine Struktur aufgewiesen, die für Aussenstehende nicht nachvollziehbar sei. «Es bestand aus zahlreichen scheinbar unsystematisch beschrifteten Ordnern mit unzähligen Unterordnerstufen», heisst es in der Einstellungsverfügung.
Die Leiterin der Abteilung Asyl räumte gegenüber der Staatsanwaltschaft ein, dass die Dokumentationspflicht im Sozialdienst nicht flächendeckend umgesetzt werde. Das sei ein Thema, für das man die Mitarbeitenden aktuell sensibilisieren würde.
In Bezug auf die Aktenorganisation gab sie zu Protokoll, dass diese in der Vergangenheit «sehr unbefriedigend» gewesen sei. Das Dossier von Ruslan Nachchaev sei ein gutes Beispiel dafür. Mittlerweile habe man das Problem aber behoben. Alle neuen Klientinnen und Klienten erhielten nur noch ein einheitliches digitales Dossier.
Chaos oder eine vorbildlich geführte Abteilung?
Der Eindruck der Staatsanwaltschaft deckt sich mit jener von Benno Straumann, der die Anzeige erstattet hatte und Ruslan Nachchaev in diesem Fall rechtlich vertrat. Er sprach gegenüber der AZ von einem «mittleren bis grossen Chaos» im Kantonalen Sozialdienst. Der zuständige Regierungsrat Jean-Pierre Gallati (SVP) hingegen wies die Vorwürfe zurück und sagte: «Der Kantonale Sozialdienst ist eine vorbildlich geführte Abteilung.»
Angesprochen auf die Mängel, teilt das Departement Gesundheit und Soziales (DGS) mit, die Einstellungsverfügung und die Akten lägen dem Departement bisher nicht vor. «Falls sich daraus Verbesserungspotenzial für den Kantonalen Sozialdienst entnehmen lässt, so wird das Departement die nötigen Massnahmen umsetzen.»
Ebenfalls eingestellt wurde das Verfahren gegen den Mitarbeiter des Migrationsamtes. Seine Beteiligung als Anstifter beziehungsweise Gehilfe in diesem Fall habe sich nicht stichhaltig beweisen lassen, obwohl durchaus Indizien vorlagen, schreibt die Staatsanwaltschaft in der Einstellungsverfügung. Wie die Mitarbeiterin des Sozialdienstes, wird auch der Mitarbeiter des Migrationsamts durch die Aussage des Arztes entlastet, der ausgeführt hatte, dass Ruslan Nachchaev nie in Lebensgefahr geschwebt sei.
Der tschetschenische Flüchtling hat die Verfügungen nicht angefochten. Damit ist das Thema juristisch abgeschlossen. Der Zugang geflüchteter Menschen zu medizinischer Behandlung wird die Politik aber noch weiter beschäftigen. Grossrat Severin Lüscher (Grüne) hat am Dienstag einen Vorstoss eingereicht. Er schildert darin den Fall einer Syrerin, die wegen eines Magendurchbruchs fast gestorben wäre. Die Regierung muss ihm nun Antworten zu diesem und möglichen weiteren Fällen liefern.