Kantonsweit höchste Dioxinwerte im Boden gemessen: Steht die Kehrichtverbrennungsanlage Turgi am falschen Ort?

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In der Stadt Lausanne sollen Eltern darauf achten, dass ihre Kinder beim Spielen keine Erde in den Mund nehmen, zudem raten die Behörden davon ab, Gemüse aus gewissen Gebieten zu essen. Grund sind massiv überhöhte Dioxinwerte im Boden, die auf Emissionen einer ehemaligen Kehrichtverbrennungsanlage (KVA) zurückgehen. Auch im Aargau wurde der hochgiftige Stoff in der Umgebung von zwei Anlagen nachgewiesen.

 
In der Kehrichtverbrennungsanlage Turgi stieg im Februar 2012 violetter Rauch auf – dies war harmlos, der Grund waren verbrannte Jodtabletten – aber die Aufnahme zeigt gut, wie sich Schadstoffe in der Umgebung der Anlage verbreiten.

In der Kehrichtverbrennungsanlage Turgi stieg im Februar 2012 violetter Rauch auf – dies war harmlos, der Grund waren verbrannte Jodtabletten – aber die Aufnahme zeigt gut, wie sich Schadstoffe in der Umgebung der Anlage verbreiten.

Leserreporter/zvg

In Buchs war die Konzentration relativ gering, in Turgi wurde der Prüfwert hingegen überschritten. Bei zwei von acht Proben in Turgi war dies der Fall, die Belastung lag bei 29 und 34 Nanogramm Dioxin pro Kilogramm Boden. Nach dem Artikel meldeten sich Leser bei der AZ-Redaktion, die wissen wollten, wo genau die Standorte mit den hohen Messwerten liegen.

Grenzwerte für die Bodenbelastung mit Dioxin

Richtwert: 5 Nanogramm Dioxin pro Kilo Boden
Wenn der Richtwert überschritten wird, prüfen die Kantone mögliche Ursachen der Belastungen. Von einer Gefährdung für Menschen, Tiere und Pflanzen muss nicht ausgegangen werden.

Prüfwert: 20 Nanogramm Dioxin pro Kilo Boden
Bei einer Überschreitung des Prüfwerts klärt der Kanton ab, ob die Belastung des Bodens Menschen, Tiere oder Pflanzen gefährdet. Bei konkreter Gefährdung wird die Nutzung des Bodens so weit eingeschränkt, dass die Gefährdung nicht mehr besteht. Dies gilt für empfindliche Nutzungen (zum Beispiel: Kinderspielplatz), wenig empfindliche Nutzungen (zum Beispiel: Grünrabatte im städtischen Raum) sind weiter möglich.

Sanierungswert: 100 bis 1000 Nanogramm Dioxin pro Kilo Boden
Der Sanierungswert liegt für Kinderspielplätze bei 100 Nanogramm – dies, weil Kinder dort Erde direkt aufnehmen können und darum besonders gefährdet sind. Für landwirtschaftliche Flächen liegt der Sanierungswert bei 1000 Nanogramm, dort ist also eine zehnmal höhere Konzentration zulässig. Wird der Sanierungswert überschritten, ist am betreffenden Standort keine Bodennutzung mehr möglich. 

«Wenn jemand für eine ganz konkrete Fläche die Belastungen kennen möchte, so kann er einem Umweltlabor den Auftrag für eine Probenahme und die entsprechende Analytik geben», sagt Michael Madliger, Leiter der kantonalen Sektion, die sich unter anderem mit Abfallwirtschaft und Altlasten befasst.

Dioxine gehören laut Madliger nicht zum Standardprogramm der kantonalen Bodenüberwachung, deshalb sind nur wenige Werte vorhanden. «Die Messungen bei den KVA Buchs und Turgi wurden im Rahmen von Spezialprogrammen des Kantons oder Umweltverträglichkeitsprüfungen durchgeführt», hält er fest.

Berichte aus den 1990er-Jahren zeigen, wo die Dioxinbelastung hoch war

Die entsprechenden Berichte aus den 1990er-Jahren sind beim Kanton noch vorhanden, auf Anfrage hat das Departement Bau, Verkehr und Umwelt der AZ detaillierte Einsicht gewährt. Aus den Resultaten der Bodenanalysen ergeben sich vier brisante Erkenntnisse:

  1. Die Bodenbelastung mit Dioxin rund um die KVA Turgi ist höher als an jedem anderen der insgesamt zwölf Standorte im Aargau, wo zwischen 1991 und 1997 Messungen durchgeführt wurden.
  2. Die Dioxinkonzentration im Boden ist in Turgi so hoch, dass Experten 1997 empfahlen, Aushubarbeiten in den betroffenen Gebieten der amtlichen Kontrolle zu unterstellen.
  3. Die Verfasser der Dioxinanalysen empfahlen, Gras und Heu an belasteten Standorten zu untersuchen und auch die Milch von dort weidenden Kühen ab einem gewissen Wert im Boden zu analysieren.
  4. Der Standort der KVA Turgi ist aufgrund der Topografie und der Wettersituation ungünstig: Die Anlage liegt in einer Mulde, zudem herrscht oft Inversionslage, die Schadstoffe können nicht entweichen.

Die erste Untersuchung auf Dioxin im Boden wurde in Turgi im Jahr 1991 durchgeführt, als die Umweltverträglichkeitsprüfung für eine Erweiterung der Anlage anstand. Damals wurde die Bodenbelastung an acht Standorten analysiert, an drei davon wurden auch die Dioxinwerte gemessen 

 

Gemäss dem damaligen Bericht lag die Konzentration auf der Baldegg unterhalb der Nachweisgrenze, im Gebiet Chappelerhof bei 7,9 Nanogramm Dioxin pro Kilogramm Boden (ng/kg) und im Gebiet Hard bei 10,4 Nanogramm.

KVA Turgi gemäss erster Analyse 1991 eher nicht Verursacher der Belastung

Im damaligen Bericht heisst es, im Gebiet Chappelerhof sei ein Einfluss der Kehrichtverbrennungsanlage nicht nachweisbar, bei der Probe im Gebiet Hard könne dies nicht ausgeschlossen werden, andere Quellen als die KVA seien aber wahrscheinlicher. In der Schweiz gab es damals noch keine Richtwerte für die landwirtschaftliche Nutzung von dioxinbelasteten Böden, deshalb wurde im Bericht auf den deutschen Richtwert von 5 ng/kg verwiesen, der mit den Messungen überschritten wurde.

Sechs Jahre später wurde in Turgi eine sogenannte emittentenbezogene Bodenuntersuchung durchgeführt, dabei wurde der Boden in der Umgebung der KVA auch auf Dioxine analysiert. Im Bericht dazu heisst es, dass die Bedingungen bei den Untersuchungen von 1991 ungünstig gewesen seien, sodass jene Ergebnisse nur als Tendenzen gewertet werden könnten. Im Jahr 1997 wurden sechs Standorte im Abstand von 700 Metern zur KVA untersucht, an vier davon wurde der Boden auf Dioxin analysiert.

Experten empfahlen nach hohen Werten 1997 eine Ergänzungsprüfung

Dabei wurde im Oberboden ein Dioxingehalt zwischen 11 und 34 Nanogramm festgestellt. Im Bericht heisst es, gemäss Empfehlungen des deutschen Gesundheitsamtes seien «von 5 bis 50 Nanogramm Prüfaufträge und Handlungsempfehlungen im Sinn der Vorsorge im Bereich der landwirtschaftlichen und gärtnerischen Bodennutzung vorgesehen». Aufgrund der Dioxinbelastung empfahlen die Experten, «die von erhöhten Werten betroffenen Gebiete durch Beprobung weiterer als Wiese oder Weide genutzter Standorte abzugrenzen».

Für Mensch und Umwelt bestehe aufgrund der Messwerte keine unmittelbare Gefahr, heisst es im Bericht. Zum Langzeitrisiko durch chronische Belastungen gebe es aber naturwissenschaftliche Wissenslücken. Insbesondere der sogenannte «Transferpfad» Boden-Pflanze-Kuh-Milch-Mensch gelte bei Dioxin als speziell kritisch, gaben die Experten zu bedenken.

Die Verfasser des Berichtes empfahlen, Gras und Heu an belasteten Standorten auf den Dioxingehalt zu prüfen. Bei einer Konzentration von mehr als 10 Nanogramm im Boden sollten zudem Milchproben auf ihre Dioxinbelastung hin untersucht werden.

Kontrolle von Aushubarbeiten, um kein Dioxin in der Gegend zu verbreiten

Aufgrund dieser Resultate wurde in Turgi eine Ergänzungsuntersuchung durchgeführt, bei der vier weitere Standorte auf Dioxin analysiert wurden. Diese neuen Bodenproben ergaben leicht tiefere Werte, zudem wurde fast keine Nutzung als Weidefläche festgestellt.

Deshalb ordnete der Kanton auch keine Einschränkungen für die Landwirtschaft an. Um die Schaffung von neuen Belastungsflächen zu verhindern, empfahlen die Experten aber, Aushubarbeiten im Untersuchungsgebiet der amtlichen Kontrolle zu unterstellen.

Zuerst wurde vermutet, die Elektrochemie Turgi (vorne, hier ein Bild aus dem Jahr 1981) könnte für die Dioxinbelastung im Boden verantwortlich sein, doch es stellte sich heraus, dass die Schadstoffe aus der Kehrichtverbrennungsanlage (hinten) stammte.

Zuerst wurde vermutet, die Elektrochemie Turgi (vorne, hier ein Bild aus dem Jahr 1981) könnte für die Dioxinbelastung im Boden verantwortlich sein, doch es stellte sich heraus, dass die Schadstoffe aus der Kehrichtverbrennungsanlage (hinten) stammte.

Swissair Photo/ETH-Bildarchiv

Die Untersuchungen im Jahr 1997 zeigten zudem, dass Emissionen aus der KVA Turgi als Ursache für die Bodenbelastung mit Dioxin verantwortlich waren. Zuvor wurde die ehemalige Elektrochemie Turgi, die rund 500 Meter nordwestlich der Anlage lag und seit Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 80er-Jahre hinein die Chloralkali-Elektrolyse betrieb, als potenzielle Dioxinquelle vermutet. Bei den Analysen zeigte sich aber, dass die Schadstoffe ein Muster aufwiesen, das typisch ist für eine thermische Herkunft, also die Kehrichtverbrennungsanlage.

Vergleich mit anderen Standorten: Dioxinwerte in Turgi klar am höchsten

Bei ihrer Untersuchung stellten die Experten auch Vergleiche mit Dioxinwerten bei anderen Firmen im Aargau an, wo Bodenproben genommen worden waren. Dabei zeigt sich: Die Belastung in der Umgebung der KVA Turgi war markant höher als bei Firmen wie der Ems Dottikon AG, der Alu Menziken, der Reichhold Chemie in Hausen, der Solvay AG in Zurzach oder der Ferrowohlen AG in Wohlen.

Turgi ist der einzige Standort im ganzen Kanton, wo der Prüfwert von 20 Nanogramm, bei dem je nach Bodennutzung eine Gefahr für Pflanzen, Tiere oder Menschen bestehen kann, überschritten wurde.

Auch der Vergleich mit anderen KVA fiel für Turgi schlecht aus: Der Dioxingehalt im Boden war hier doppelt so hoch wie in der unmittelbaren Umgebung der Anlagen Hagenholz in Zürich oder Kezo in Hinwil. Und dies, wie es im Bericht heisst, obwohl der Abfalldurchsatz in Turgi vergleichbar oder kleiner war und ähnliche Luftreinhaltemassnahmen ergriffen wurden.

Standort und häufige Wetterlage sind bei der KVA Turgi besonders ungünstig

Doch warum liegen die Dioxinwerte in Turgi so viel höher als bei anderen Kehrichtverbrennungsanlagen und Metall- oder Chemiewerken? Die Verfasser des Untersuchungsberichtes sehen in der Lage der KVA einen wichtigen Grund. Die Situation der Abluftemissionen sei «wegen ausgeprägter Muldenlage mit häufigen Inversionen besonders ungünstig», schreiben die Experten.

Als Inversion wird eine Wetterlage mit einer Hochnebeldecke oder einer stabilen wärmeren Luftschicht in einer gewissen Höhe bezeichnet. Die Abluft aus dem 86 Meter hohen Kamin der Kehrichtverbrennungsanlage Turgi wird dann von dieser Schicht aufgehalten. Die Schadstoffe können nicht weiter aufsteigen und sich über ein grösseres Gebiet verteilen, sondern verbleiben in der Umgebung der KVA und lagern sich dort schliesslich am Boden ab.

30-mal weniger Dioxin dank erweiterter Rauchgasreinigung im Jahr 1996

Die KVA Turgi besteht seit 1970, die jährlich verbrannte Abfallmenge stieg von 27’000 Tonnen im ersten Betriebsjahr auf etwa 60’000 Tonnen im Jahr 1997. Durch laufende Entwicklung der Luftreinhaltemassnahmen wurde die jährlich ausgestossene Staubmenge im gleichen Zeitraum von etwa 45’000 kg auf 500 kg reduziert. Die Experten schätzen zudem, dass der Dioxinausstoss der Anlage seit dem Einbau der weitergehenden Rauchgasreinigung im Jahr 1996 um den Faktor 30 zurückging.

Die Kehrichtverbrennungsanlage Turgi (links) wurde vor 51 Jahren in Betrieb genommen, hier eine Aufnahme vom 6. Juli 1970.

Die Kehrichtverbrennungsanlage Turgi (links) wurde vor 51 Jahren in Betrieb genommen, hier eine Aufnahme vom 6. Juli 1970.

Werner Friedli/ETH-Bildarchiv

Damals wurde eine Entstickungsanlage installiert, diese sogenannte Denoxstufe entfernt Stickstoffoxide (NOx) aus der Abluft der Anlage. Dies war erst vor wenigen Tagen wieder Thema bei der KVA Turgi: Die Abgeordnetenversammlung genehmigte am 20. Oktober den Investitionsplan für die Jahre 2021 bis 2024, der auch Mittel für die Erneuerung der Denoxstufe vorsieht.

«Die Aktivität der Elemente im Katalysator wird mit der Zeit schwächer. Um die Einhaltung der NOx- und Dioxin-Grenzwerte weiterhin garantieren zu können, muss eine weitere Lage ersetzt werden», heisst es dazu in den Unterlagen. Die Abgeordneten haben dem Vorstand der KVA Turgi die Kompetenz erteilt, dieses Projekt zu realisieren, sobald dies nötig wird – budgetiert sind dafür 300’000 Franken.