
Karl Killer war der letzte vor Pascale Bruderer: Als die SP ins Stöckli einzog
Noch mehr als 14 Monate sind es bis zu den nächsten nationalen Wahlen. Dennoch haben sich im Aargau in den letzten Wochen schon diverse Kandidatinnen und Kandidaten für die Ständeratswahl vom 20. Oktober in Stellung gebracht.
Seit der Gründung des Bundesstaates im Jahr 1848 waren die Sitze im Stöckli im Aargau grossmehrheitlich in bürgerlicher Hand. Mit dem Verzicht von Pascale Bruderer, die seit 2011 für die SP im Ständerat sitzt, könnte dies nach den nächsten Wahlen erneut der Fall sein. Die sogenannte «ungeteilte Standesstimme», also zwei bürgerliche Aargauer im Ständerat, war vor Bruderers Wahl die Regel. Doch schon weit vor der jungen Badenerin war die SP im Stöckli vertreten. Es war der Nationalrat und spätere Badener Stadtammann Karl Killer, welcher in einem denkwürdigen Wahlkampf 1943 den seit vielen Jahren von der FDP gehaltenen Ständeratssitz eroberte. Er besiegte FDP-Schwergewicht Emil Keller, Gründer der Nordostschweizerischen Kraftwerke NOK und Regierungsrat. Killer siegte in der Kriegszeit nicht zuletzt mit der zügigen Parole, beim Wählen ja den «i-Punkt» nicht zu vergessen. Er profitierte aber auch von einem internen FDP-Sprengkandidaten, der Keller Stimmen wegnahm.
Freisinn holt sich den Sitz zurück
Bei den beiden Ständeratsmandaten ging also 1943, mitten im Krieg, die lange Ära einer bürgerlichen Zweiervertretung, meist CVP/FDP, zu Ende. Doch nur bis 1948, als Karl Killer 70-jährig verstarb. Mit der Wahl des freisinnigen Nationalrats Ernst Speiser setzte sich danach erneut die ungeteilte bürgerliche Standesstimme CVP/FDP durch. Die Freisinnigen liessen nichts anbrennen und konnten Speiser, den früheren Forschungsdirektor der BBC aus Baden, gewinnen, der während des Weltkriegs ausserdem Chef des pres-tigeträchtigen eidgenössischen Kriegs-, Industrie- und Arbeitsamtes war.
Ohnehin war 1948 die Not der Kriegsjahre bereits am Abklingen. Bei Kriegs-
beginn noch gab es weder eine AHV noch eine Arbeitslosenversicherung. Angesichts der Lücken im Sozialsystem und der mangelnden Versorgung mit Lebensmitteln erstarkten jene Kräfte, die sich für die Schwächeren einsetzten. Die SP im Aargau erhielt bei den Grossratswahlen 1941 rund 30 Prozent der Stimmen und holte 58 von 200 Sitzen im kantonalen Parlament. 1945 steigerten sich diese Zahlen gar auf 34 Prozent und 67 Mandate.
Gründung der SP Aargau
In den Kriegsjahren 1939 bis 1945 standen zahlreiche Männer im Aktivdienst an der Grenze. Zu den in vielen Branchen üblichen tiefen Löhne gesellten sich mangelnde oder keine Lohnfortzahlung während des Militärdienstes. Für die erwähnten, im Vergleich zu heute unglaublich hohen SP-Stimmenzahlen mögen die wirtschaftlich gedämpfte Situation und die sozialen Umstände die Hauptgründe darstellen. Zusätzlich gab es für die SP noch keine Konkurrenz im linken Lager, wie es heute mit den Grünen der Fall ist: Es mussten damals weniger Kuchenstücke an Mitbewerber verteilt werden.
Gegründet wurde die SP Schweiz im Jahr 1888, ein Auslöser war die Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Sie brachte zwar Arbeit und den Beginn von Wohlstand. Aber sie ging einher mit geringen Löhnen, zu langen Arbeitszeiten und schlechten Wohnverhältnissen. Oft grassierte noch Kinderarbeit. Politisch dominierte unter dem Majorzwahlsystem der Freisinn. In der FDP gab es eine liberale und eine radikale Strömung, aber die Partei fand nicht die Kraft, sich Auswüchsen der Industrialisierung entgegenzustemmen. Zu einflussreich, zu aktiv wirkten die Industriellen bei den Freisinnigen Auch die Katholisch-Konservativen, die heutige CVP, damals im Volksmund KK genannt, gaben wenig Gegensteuer. Sie kämpften gegen den Zentralismus und für die Kirche, aber wirtschaftlich segelten sie im Boot der Freisinnigen.
Der lange Zeit als linker Flügel des Freisinns agierende Grütliverein begann sich mehr und mehr zu emanzipieren, und 1888 gelang auf schweizerischer Ebene die Gründung einer SP. Im Aargau kam es 1902 beim Zusammenschluss von Arbeitervereinen und Grütlianern zur Gründung der Sozialdemokratischen Partei.
Systemänderung half SP und SVP
Politisch erfolgreich waren die Linken vorerst aber nicht, dafür brauchte es eine Änderung des Wahlsystems. Eine der Forderungen beim Landesstreik von 1918 war die Einführung von Proporzwahlen für das eidgenössische Parlament. Im Aargau wurde dies schon Jahre vorher gefordert, doch nun stieg der Druck. Die Einführung gelang im Bund für die Wahlen von 1919, im Aargau für 1921. Sowohl der Nationalrat im Bund wie der Grosse Rat im Aargau wurden neu nach dem gerechteren Proporz (so viele Sitze wie die Parteien anteilmässig Stimmen erzielen) statt nach dem früheren Majorzsystem (nur der Kandidat mit den meisten Stimmen pro Wahlkreis kam ins Parlament) gewählt.
Mit dem neuen Proporzsystem änderten schnell die Blöcke in den Parlamenten, sowohl im Bund wie im Kanton. SP und SVP (damals noch Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei BGB) überflügelten den Freisinn, der zuvor die Mehrheit in beiden Parlamenten gestellt hatte.
Bei den Nationalratswahlen 1919 wurde die SP mit 28 Prozent stärkste Partei im Aargau und errang drei der zwölf Sitze. Am zweitmeisten Stimmen erzielten die Freisinnigen, dann folgten die KK und die BGB. Diese vier Parteien teilten sich die zwölf Aargauer Nationalratssitze nach dem neuen Proporz mit je 3 Mandaten.
Mittels Volksinitiative gelang die Durchsetzung des Proporzes auch für den Grossen Rat. Gegenüber der letzten Majorzwahl von 1917 (mit total 213 Sitzen) gab es – ähnlich wie beim Nationalrat – 1921 markante Verschiebungen. Im Grossen Rat (mit neu insgesamt 200 Sitzen) hielt nun die SP 51 Mandate (1917 noch 18), die KK/CVP 47 (vorher 55), die BGB/SVP 46 (vorher 0), die FDP 43 (vorher die Mehrheit von 140 Sitzen!), die EVP 2 (vorher 0) und Diverse 11 Grossratssitze.
Der erste linke Grossratspräsident
Im folgenden Amtsjahr wurde das Kantonsparlament aufgrund der Parteistärken erstmals von einem Vertreter der SP präsidiert. Es war der bereits erwähnte Karl Killer. Der Präsident des Aargauer Lehrervereins versah das Präsidium «mit überlegener Gewandtheit», wie in der Presse von damals nachzulesen ist.
Aber wie konnte eine Partei, die vorher keinen Nationalrat und nur 18 Grossräte stellte, plötzlich die neue Rolle als grösste Partei ausfüllen? Sie setzte vor allem auf einige wenige Spitzenpolitiker – alles Männer, weil das Frauenstimmrecht ja erst 1971 eingeführt wurde. Karl Killer, Arthur Schmid senior, Rudolf Siegrist: So hiessen die drei dominierenden SP-Politiker nach den Gründungsjahren der Partei. Killer war zweifellos der populärste, er schwang auch bei den ersten Proporz-Nationalratswahlen 1919 obenaus und sollte später erster SP-Ständerat werden.
Unter den drei gewählten SP-Nationalräten figurierten als Bindeglied zu den Gewerkschaften der einzige kantonale Arbeitersekretär, Hermann Müri, sowie der 1889 geborene Arthur Schmid senior, Oberentfelden. Dieser übernahm 1920 bis zu seinem Tod 1958 auch die Chefredaktion der SP-Tageszeitung «Freier Aargauer» und prägte als Parteisekretär den Kurs der Partei. Arthur Schmid senior war ein Vollblutpolitiker, gab alles für die Politik und war gut organisiert. Sonst hätte er die Aufbauarbeit als Parteisekretär, die Leitung des «frechen Aargauer» (wie der Volksmund die SP-Zeitung nannte), das Fraktionspräsidium im Grossen Rat und das Nationalratsmandat nicht gleichzeitig ausüben können.
SP zog 1932 in die Regierung ein
1919 misslang den Sozialdemokraten ein erster Versuch, in die fünfköpfige Aargauer Regierung einzuziehen. Karl Killer verlor damals gegen den BGB-Mann Albert Studler mit 19 458 gegen 24 738 Stimmen. Arthur Schmid senior und der aufstrebende, populäre Naturwissenschafter und Lehrer Rudolf Siegrist als Parteipräsident setzten sich in den nächsten Jahren zuerst gemeinsam für einen Verzicht auf eine Regierungsbeteiligung ein, denn man wollte als stärkste Partei «keine Bettlersuppe» mit nur einem Sitz, während den Bürgerlichen vier Sitze verblieben. 1932 blieb Schmid bei dieser Haltung, doch der Parteitag folgte dem Antrag Karl Killers auf eine SP-Teilnahme mit knappen 132 gegen 127 Stimmen.
Der Aarauer Rudolf Siegrist wurde nach diesem Entscheid erster SP-Regierungsrat und blieb es bis 1955. 1949 zog in einer Kampfwahl für einen zweiten SP-Sitz der Oftringer Lehrer Adolf Richner gegen den Aarauer Freisinnigen Kurt Kim den Kürzeren. Richner wurde dann aber 1955 zum Nachfolger von Rudolf Siegrist gewählt.
Doppelvertretung wechselte
Die Freisinnigen hatten damit neben dem seit 1945 amtierenden, volksverbundenen Finanzdirektor Ernst Bachmann wieder eine Doppelvertretung im Regierungsrat, die bis 1965 dauern sollte. Zudem sassen in der Kantonsregierung je ein SP-, CVP- und SVP-Vertreter. Zuvor war es die BGB/SVP, welche zwischen den beiden Weltkriegen zwei Vertreter im Regierungsrat stellte. Die in der Zwischenzeit wählerstärkste Partei erhob in späteren Jahren erneut Anspruch auf zwei Regierungssitze, und reüssierte prompt bei den letzten Wahlen. Franziska Roth gewann Ende 2016 gegen je eine SP-, Grünen- und BDP-Kandidatur und ist erst die dritte Regierungsrätin seit Einführung des Frauenstimmrechts 1971.
Der Gewinn des zweiten Sitzes für die SP geschah 1965 mit Arthur Schmid junior unter den günstigst möglichen Begleitumständen: 1964 focht die CVP gegen die FDP einen heftigen Streit aus, weil diese CVP-Justizdirektor Paul Hausherr für einen Justizskandal verantwortlich machte. Die CVP, wie aus anderen Gründen auch die SVP, verwehrte dem Freisinn die sonst übliche bürgerliche Unterstützung. Daraufhin gewann Arthur Schmid junior, bereits Nationalrat, gegen FDP-Kandidat Ernst Burren, Lenzburger Strafanstaltsdirektor, mit 38’000 gegen 32’400 Stimmen. Auf den bereits FDP-intern unterlegenen HTL-Direktor Walter Winkler entfielen 5700 Stimmen.
Immer wieder FDP gegen SP
Ähnlich günstig verlief der Wahlkampf 1969 zugunsten eines zweiten sozialdemokratischen Sitzes: SP-Kampfkandidat Louis Lang, Nationalrat, genoss die Unterstützung des «Badener Tagblatts» und hatte mit Lehrer August Süsstrunk einen unerfahrenen und unglücklich operierenden FDP-Gegner. Lang siegte deutlich mit 40 000 gegen 22’400 Stimmen.
Kein Glück hatten dagegen die beiden seit 1979 im Nationalrat engagierten Ursula Mauch und Silvio Bircher bei den nächsten grossen SP-FDP-Duellen: Ihre Gegenkandidaten genossen die Unterstützung des geschlossenen Bürgerblocks. Victor Rickenbach, der Badener Stadtammann, gewann gegen Ursula Mauch im Februar 1985 mit 41’300 zu 23’400 Stimmen. Silvio Bircher unterlag Thomas Pfisterer, Bundesrichter, mit 34’800 gegen 38’500 Stimmen im Dezember 1990. Im zweiten Anlauf schaffte Bircher dann den Sprung in die Kantonsregierung.