
Kaum noch Billett-Entzüge wegen charakterlicher Nichteignung – sind Aargauer Autofahrer nun vorbildlich?
Unverhältnismässig viele Fahrausweisentzüge bei Autolenkern: So lautet die Kritik am Kanton in einem CVP-Vorstoss im Grossen Rat. Michael Wetzel, Edith Saner und Marianne Binder halten in ihrer Interpellation fest, die Zahl der Ausweisentzüge sei im Aargau im Vergleich mit anderen Kantonen und im Verhältnis zur Zahl der Automobilisten aussergewöhnlich hoch.
Die drei CVP-Vertreter finden «die überdurchschnittlich hohe Zahl an Ausweisentzügen in Folge charakterlicher und psychischer Nichteignung befremdend», wie es in der Interpellation heisst. Auch wegen Krankheiten und Gebrechen, Alkoholabhängigkeit und Drogensucht verfüge der Aargau «teilweise massiv mehr Ausweisentzüge als andere Kantone», kritisieren die Interpellanten. Sie berufen sich dabei auf die Statistik für Administrativmassnahmen (Admas) des Bundesamtes für Strassen.
Als konkrete Beispiele werden im CVP-Vorstoss die Zahlen aus dem Jahr 2016 angeführt. Damals wurden schweizweit 986 Ausweise wegen charakterlicher Nichteignung entzogen – allein 487 davon im Aargau. Bei der psychischen Nichteignung waren es gesamtschweizerisch 680 Fälle registriert, im Aargau deren 274.
Vorstoss basiert auf alten Zahlen
Eingereicht wurde der Vorstoss an der Grossratssitzung vom letzten Dienstag, die drei CVPler haben dafür die Admas-Statistik der Jahre 2011 bis 2016 ausgewertet. In dieser Periode, und auch im Jahr 2017, sind die Zahlen der Ausweisentzüge wegen charakterlicher oder psychischer Nichteignung im Aargau tatsächlich überdurchschnittlich hoch.
Ganz anders sieht dies jedoch in der Statistik für 2018 aus, die letzte Woche publiziert wurde. Von den schweizweit 421 Ausweisentzügen wegen charakterlicher Nichteignung entfielen nur gerade 13 auf Aargauer Autolenker – das ergibt einen Anteil von lediglich drei Prozent. Bei den Entzügen wegen psychischer Probleme sind die Zahlen ähnlich: 333-mal mussten Autofahrer im vergangenen Jahr in der Schweiz deswegen den Ausweis abgeben – im Aargau waren es gerade einmal fünf Fälle, oder 1,5 Prozent (siehe Tabelle unten). Vor dem Hintergrund dieser markanten Trendwende wirkt der CVP-Vorstoss eher seltsam.
Grossrat Michael Wetzel erläutert auf Anfrage, er habe die Interpellation verfasst, bevor die Statistik für das Jahr 2018 publik gewesen sei. «Ich bin Mitglied der Sicherheitskommission, die sich auch mit dem Strassenverkehrsamt und der Polizei befasst, und ich erhielt Meldungen aus der Bevölkerung zu diesem Thema», sagt Wetzel. Wenn die Zahlen inzwischen zurückgegangen seien, sei dies erfreulich, dennoch blieben bei ihm Fragen. «Ich möchte eine Erklärung, warum die Werte in den letzten Jahren so hoch waren, und warum es jetzt zu dieser Trendwende kam», hält Wetzel fest.
Kanton hat Praxis angepasst
Schon vor vier, fünf Jahren seien die Ausweisentzüge mit politischen Vorstössen thematisiert worden, damals habe die Regierung eher ausweichend geantwortet. «Ich weiss, dass die Strassenverkehrsämter die Gründe für die Entzüge nicht überall gleich erfassen, aber immer nur zu sagen, die Statistik sei nicht vergleichbar, ist auch nicht befriedigend.»
Die Antwort zum CVP-Vorstoss muss die Regierung liefern, die Fragen der AZ zur Trendwende bei den Ausweisentzügen beantwortet Samuel Helbling, Sprecher des Volkswirtschafts- und Innendepartements, jetzt schon. Schon im Jahr 2017, als die vielen Entzüge zum letzten Mal im Fokus standen, kündigte Helbling an, der Kanton werde seine Praxis in diesem Bereich überprüfen. Heute sagt er, das Aargauer Strassenverkehrsamt habe die Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Obergerichts systematisch analysiert, in einer Wegleitung festgehalten und wende diese seit einem Jahr konsequent an. Die Wegleitung wurde in enger Zusammenarbeit mit Verkehrsmedizinern erarbeitet.
War die Praxis früher also zu streng, wurden Führerausweise im Aargau zu rasch entzogen? Helbling verweist zu dieser Frage allgemein auf «die Forderung nach Verhältnismässigkeit von Entzügen», die Gegenstand von mehreren politischen Vorstössen im Grossen Rat gewesen sei. In diesem Sinn stelle das Strassenverkehrsamt sicher, «dass die im Einzelfall nötigen, angemessenen und zielführenden Anordnungen getroffen beziehungsweise die erforderlichen Abklärungen in die Wege geleitet werden».
Gründe anders ausgewiesen
Damit ist der markante Rückgang bei den Ausweisentzügen wegen charakterlicher oder psychischer Nichteignung im Jahr 2018 allerdings noch nicht erklärt.
Schickt der Kanton heute einfach weniger Autofahrer zum Verkehrspsychologen? Samuel Helbling sagt: «Das Strassenverkehrsamt hat seine Meldepraxis überprüft und anderen Kantonen angepasst.» Früher habe der Aargau bei Entzügen wegen charakterlicher, psychischer oder krankheitsbedingter Nichteignung sowie bei Alkoholabhängigkeit und Drogensucht die höchsten Zahlen ausgewiesen. Die Überprüfung der Meldepraxis hat laut Helbling ergeben, dass andere Kantone diese Gründe nur bei Fällen ohne Verstösse gegen das Strassenverkehrsgesetz anwenden. «Wenn es sich um eine Fahrt mit 2 Promille handelt, setzten die anderen Kantone beispielsweise Angetrunkenheit als Grund in der Statistik, auch wenn beim Lenker Anhaltspunkte auf Trunksucht bestanden», erläutert der Sprecher. Das Strassenverkehrsamt Aargau habe nun diese Praxis übernommen.
Viel mehr «andere Gründe»
Wenn man die Statistiken der vergangenen vier Jahre anschaut, fällt eine weitere Besonderheit auf. Gleichzeitig mit der Abnahme der Entzüge wegen charakterlicher und psychischer Nichteignung ist eine markante Zunahme der Entzüge wegen «anderen Gründen» festzustellen. 2015 wurden in dieser Kategorie im Aargau 53 Ausweisentzüge gemeldet, 2018 waren es bereits 674 Fälle. Hat der Kanton die Entzüge bei Autofahrern, die als psychisch oder charakterlich nicht geeignet eingestuft wurden, nun einfach in die Kategorie «anderer Grund» verschoben?
Helbling widerspricht dieser Vermutung und erklärt, eine solche Verschiebung finde nicht statt. Vielmehr habe sich die Einstufung von Lenkern geändert, die eine ärztliche Kontrolluntersuchung verweigern und deshalb den Ausweis abgeben müssen. Früher seien diese in der Kategorie «nicht geeignet wegen Krankheit oder Gebrechen» erfasst worden. Mit der neuen Meldepraxis würden solche Fälle seit dem letzten Jahr in der Kategorie «anderer Grund» gemeldet.
Meldung zwei Monate später
Helbling weist zudem darauf hin, dass die Meldefrist für die Statistik seit dem Jahr 2018 neu geregelt ist. Neu würden die Ausweisentzüge erst nach Rechtskraft gemeldet und somit erst nach ungefähr 60 Tagen ins System eingetragen. «Das bedeutet, dass in der Statistik 2018 zwei Monate an verfügten Massnahmen fehlen» und auch deshalb die Zahl der Entzüge tiefer sei als in den Vorjahren.
Der Sprecher sagt weiter, die Statistik enthalte insgesamt 33 Gründe für Ausweisentzüge. Die Angabe der Entzugsgründe durch die Kantone sei gesamtschweizerisch nicht kohärent. Dies führe zu Verzerrungen zwischen den einzelnen Entzugsgründen und relativiere die Aussagekraft dieses Teils der Statistik erheblich. «Deshalb ist der interkantonale Vergleich bei den einzelnen Entzugsgründen nur beschränkt aussagekräftig.»
6371 Ausweisentzüge
weist die Admas-Statistik des Bundes für 2018 im Aargau aus. 2017 waren es noch 8493 Entzüge, 2016 mussten 8053 Aargauer den Ausweis abgeben, im Jahr 2015 wurden 7757 solche Fälle registriert. Die deutlich tiefere Zahl im letzten Jahr kommt zustande, weil seit 2018 die Entzüge erst nach rund 60 Tagen in der Statistik eingetragen werden, wenn sie rechtskräftig sind. Damit fehlen praktisch zwei Monate in der letztjährigen Statistik.