
Keine Bau-Norm für barrierefreie Haltestellen: «Aargauer Regierung stiehlt sich aus der Verantwortung»
Wie sieht eine behindertengerechte Bushaltestelle aus? Die Haltekante muss erhöht sein, im Optimalfall zwischen 22 und 30 Zentimeter, im Minimum aber 16 Zentimeter hoch. Von einer herkömmlichen Haltestelle unterscheidet sie sich im Belag und in der Breite des Trottoirs. Das alles steht in der Norm SN 640 075. Sie gilt für die ganze Schweiz und wird von Bauverantwortlichen landauf landab genutzt. Rechtlich bindend ist sie aber streng genommen nicht.
Dies wollten neun Grossräte ändern. In einem Vorstoss forderten sie, dass die Norm für behindertengerechtes Bauen ins Aargauer Baugesetz geschrieben werden soll. Damit erhielten vor allem die Gemeinden endlich klare Regeln, welche Anforderungen sie zu erfüllen hätten, sagte SP-Grossrat David Burgherr nach dem Einreichen der Motion. Bis anhin könnten Planer und Bauherren einzelne Punkte der Norm allzu einfach vernachlässigen, weil sie etwa die Kosten stärker gewichten oder Interessen anderer Verkehrsteilnehmer voranstellen.
Dem Regierungsrat genügt der kantonale Leitfaden
Der Regierungsrat lehnt die Motion ab. «Dem Kanton fehlt aufgrund der Bundeszuständigkeit die Kompetenz für eine eigenständige gesetzliche Lösung», heisst es in der Begründung. Anders gesagt: Der Aargau kann sich nicht einfach über das Bundesrecht hinwegsetzen, indem er die Bau-Norm für verbindlich und massgebend erklärt. Kostengründe haben mit der Ablehnung der Motion indes nichts zu tun. Der Regierungsrat sieht alles in allem keine Not, auf eine Gesetzesänderung zu pochen. Die kantonale Fachstelle habe bereits einen Leitfaden erstellt, der aufzeige, «wie die Umsetzung konkret erfolgen kann». Mit diesen Empfehlungen sei die behindertengerechte Ausgestaltung von Bushaltestellen konkret genug. «Weitergehender Regelungsbedarf ist nicht gegeben», hält der Regierungsrat abschliessend fest.
«Die Regierung stiehlt sich aus der Verantwortung»
Für Grossrat David Burgherr ist die Antwort der Regierung nicht nachvollziehbar. «Aus meiner Sicht stiehlt sich der Regierungsrat allzu einfach aus der Verantwortung.» Dass der Kanton keine Kompetenz habe, über das Behindertengesetz hinaus zu gehen, sei «schlichtweg falsch», sagt Burgherr. «Für Hochbauten legte der Regierungsrat in der Bauverordnung auch eine Norm für barrierefreies Bauen fest. Warum sollte ihm das Gleiche nicht auch im Tiefbau möglich sein?» Schliesslich dürften Kantone eigene Regelungen erlassen, fügt Burgherr an. Das Gesetz weise sogar explizit darauf hin. Tatsächlich hält Artikel 4 fest: «Dieses Gesetz steht weitergehenden Bestimmungen der Kantone zu Gunsten der Menschen mit Behinderungen nicht entgegen.»
Auch Remo Petri von Procap Schweiz, der Fachstelle für hindernisfreies Bauen, ist von der Antwort des Regierungsrats enttäuscht: «Ich bedaure es sehr, dass man sich nicht durchringen konnte, die Norm für verbindlich zu erklären.» Am meisten hätten die Gemeinden davon profitiert, ist Petri überzeugt. Bei rund der Hälfte aller Bushaltestellen im Aargau seien nämlich sie für den Umbau verantwortlich. «Das Problem ist aber, dass viele Gemeindevertreter nicht einmal wissen, dass diese Norm existiert oder unsicher sind, wie sie diese umsetzen sollen.» Diese Situation werde dann oft von Busbetrieben ausgenutzt, die sich dem niveaugleichen Einstieg verweigern. «Der Regierungsrat hätte hier ein klares Rechtsmittel schaffen können», findet Petri. Er habe die Problematik der Umsetzung aber nicht erkannt «und es verpasst, ein klares Zeichen zu setzen».