
Leben ohne Identität
Die Geschichte geht so: Als ich realisierte, dass meine ID abgelaufen war, waren meine Frau und ich mit dem Auto auf dem Weg nach Frankreich und kurz vor dem Zoll in Basel. Sehen wollte meine ID niemand, es war schliesslich vier Uhr in der Früh. Das war im Mai 2016. Weil das so problemlos ging, vergass ich die ID schnell wieder, bis wir das nächste Mal nach Frankreich fuhren. Leider kam mir der Gedanke «ID erneuern!» erst am Tag vor der Abreise – also zu spät, um noch reagieren zu können. Dann fuhren wir nach Italien, dann wieder nach Frankreich. Jedes Mal dasselbe!
Vor rund drei Monaten wollte ich darum – in der Gewissheit, dass irgendwann auch wieder eine Flugreise auf dem Programm stehen würde – endlich handeln: Ich setzte mich in diese «Pronto-Phot»-Kabine am Bahnhof Zofingen, die laut Eigenwerbung die perfekten Aufnahmen für offizielle Dokumente fertigt. Ich versuchte, den Anweisungen der Automatenstimme Folge zu leisten und meinen Kopf im vorgesehenen Oval zu platzieren, was nicht ganz einfach ist, wenn das Gesicht durch einen Bart um 20 Zentimeter verlängert wird. Nach dem dritten Versuch musste ich wohl oder übel eine Variante ausdrucken lassen, obwohl ich ahnte, dass das nicht gut kommt – denn Geld zurück und abbrechen ist bei Pronto-Phot nicht vorgesehen. Auf dem Bild herrschte oberhalb meiner Stirn eine grosse, gähnende Leere, während mein Gesicht etwa da, wo man unter dem Bart das Kinn vermuten kann, abgeschnitten war. Fünf Minuten später liess ich mir auf der Einwohnerkontrolle Zofingen von netten jungen Damen bestätigen, dass das Bild absolut unbrauchbar sei. Also wieder in den Photo-Kasten, aber diesmal war ich schlauer und lehnte mich ein wenig zurück, um mein Gesicht kleiner erscheinen zu lassen. Das Resultat unterschied sich vom ersten Versuch in gar nichts. 20 Franken verlocht und immer noch kein Bild! Also noch ein Versuch. Und wieder auf die Gemeinde. Und wieder ein klares Nein. Schon 30 Franken im schwarzen «Pront-Photo-Loch» versenkt!
«Das können wir dänk selber», meinte Kollege Raphi ein paar Tage später und hatte recht: Ruckzuck war das Bild im ZT-Studio gemacht. Nun musste das Bild und vor allem das Gesicht auf dem Bild nur noch auf den Millimeter genau die klar definierten Grössen-Vorgaben erfüllen. Und auf Photopapier ausgedruckt werden. Sie werden wohl ahnen, dass mir das nicht gelang, und zwar nicht nur, weil im ganzen ZT-Medienhaus nirgends mehr Photopapier aufzutreiben war. Am Ende tat ich das, wozu mir bereits vorgängig viele wohlmeinende Menschen geraten hatten: Ich setzte mich im «Fotostudio 26» auf einen Bürostuhl und liess den freundlichen Inhaber Markus Kohler machen. Beim Verlassen des Geschäftes hatte ich nicht nur ein Bild und die Garantie von Herrn Kohler, dass dieses auch tatsächlich brauchbar sei, sondern überdies noch vier Bilder «für ins Portemonnaie», auf denen ich laut Kohler «freundlich» aussehe. Frohlockend marschierte ich zum wiederholten Mal zu den netten Damen auf die Einwohnerkontrolle und tatsächlich: ein klares Ja. Die Dame scannte nun mein Bild ein und schien zufrieden. Als sie «Jetzt brauche ich nur noch ihre Adresse, Herr Schweizer» sagte, spürte ich auf einmal dieses beängstigende Vakuum-Gefühl im Oberstübchen, das nie etwas Gutes verheisst. Was zum Teufel will ich eigentlich ständig auf der Zofinger Einwohnerkontrolle? Ich wohne in Brittnau – und das seit sieben Jahren! Fortsetzung folgt garantiert keine.