
Zu Fuss zum Weihnachtsmann
So gross meine Begeisterung für Weihnachten im Kindesalter auch war – mit den Jahren ist sie einer richtiggehenden Abneigung gewichen. Irgendwann fand ich Weihnachten nichts anderes mehr als ein abstossender, generalstabsmässig organisierter Kaufrausch. Immer mehr, immer früher, immer verreckter! Zum Glück wurde vor viereinhalb Jahren unsere Enkelin, das kleine Yetigirl, geboren. Seither sehe ich die Sache wieder etwas anders: Gestern haben das Yetigirl und ich ausgiebig Spielzeugkataloge studiert. Yetigirl war masslos entzückt ob all dem rosaroten und regenbogenfarbenen Puppenzeugs, den kleinen Badewannen, Küchen, Kinderwägelchen, Schlössern und Prinzessinnen. Yetis Liste wurde länger und länger. Erstaunlicherweise fiel ihr das selber auf, deshalb kam auch bald die erste besorgte Frage: Kann der Weihnachtsmann überhaupt so viele Sachen auf einmal bringen, Opi? Das ist eine gute Frage, sagte ich, vielleicht sollten wir ihn fragen. Zufällig weiss der Opi, wo der Weihnachtsmann wohnt. Sowas muss man einer Viereinhalbjährigen nicht zwei Mal sagen. Sie verlangte eine genaue Wegbeschreibung zur Behausung des Weihnachtsmannes.
Die gab ich ihr gerne: Wir folgen der Wigger gegen Süden, und zwar müssen wir im Wasser gehen (Yeti: Warum im Wasser? Opi: Wart ab!). Irgendwann liegt da ein grosser, runder und ganz roter Stein im Wasser. Den müssen wir zu zweit hochheben, darunter liegt ein Schlüssel, den müssen wir in den Rucksack legen, weil wir ihn später noch brauchen (Yeti: Wofür denn? Opi: Wart ab!). Dann laufen wir immer weiter dem Fluss entlang, bis wir ein ganz dickes Betonrohr sehen, das gegen rechts abzweigt. Jetzt brauchen wir die Taschenlampe. Nach etwa einer Minute sehen wir im Dunkeln einen grünen Knopf leuchten, da drücken wir drauf. Auf einmal geht eine Tür auf in der Betonröhre, wir treten ein und stehen in einem Zauberwald, in dem statt Bäumen riesige Blumen stehen, Rosen und Tulpen und Sonnenblumen und so. (Yeti: Warum? Opi: Warum was? Yeti: Warum Blumen? Opi: Weil es eben ein Zauberwald ist. Yeti: Okay.) Im Zauberwald müssen wir die Schuhe ausziehen und dürfen nur auf den Mooswegen laufen. (Yeti? Warum? Opi: Damit wir die Blumen nicht zertrampeln und die Fee-Larven. Yeti: Fee-Larven? Opi: Jaja, aus denen schlüpfen im Frühling Feen. Yeti: Stimmt das, Opi? Opi: Sicher stimmt das!) Bald müssen wir ein Feuer machen und ein Zelt aufschlagen, und zwar unter einem riesigen, roten Krokus. (Yeti: Warum müssen wir zelten? Opi: weil wir schon so lange unterwegs waren, dass jetzt die Sonne untergegangen ist. Und es noch weit ist bist zum Weihnachtsmann. Und wir Hunger haben und kochen müssen.) Am nächsten Morgen wandern wir ganz früh weiter, bis der Zauberwald in eine tiefe Schlucht mündet, die immer enger wird. Jetzt müssen wir die Mützen anziehen und die dicke Jacke und ganz bis ans Ende der Schlucht gehen. Da sehen wir im Fels eine Türe. (Yeti, ganz aufgeregt: Der Schlüssel Opi! Opi: Bingo!) Wir schliessen die Türe auf und sehen eine Treppe. Jetzt müssen wir nur noch die Treppe hoch und dann sind wir beim Weihnachtsmann. (Yeti: Endlich da! Opi: Noch nichts ganz, es sind Tausend Millionen Hundert Dreiundneunzig Treppenstufen! Yeti: Nein!!) Irgendwann sind wir dann oben, da hat es wieder eine Türe und wenn man die aufmacht, steht man zuoberst auf dem höchsten Berg der Welt. Und da wohnt der Weihnachtsmann, in der grossen Holzhütte mit dem Rentier-Stall nebendran. Von da oben sieht er die Wunschzettel aller Kindern auf der ganzen Welt.
Das Yetigirl war sichtlich beeindruckt vom ungeheuren Wissen ihres Opis, gab jedoch zu bedenken, dass sie am nächsten Morgen in den Kindergarten müsse, was ganz blöd sei, weil der Weg zum Weihnachtsmann ja so weit sei, dass man sogar im Zelt schlafen müsse. Zum Glück kenne ich ganz zufällig auch die Telefonnummer des Weihnachtsmannes, unter der man Auskunft über Lieferstatus und Bestellmenge erhält. Die kann ich Ihnen, liebe Grosseltern und Eltern, leider nicht rausgeben, weil die Stimme des Weihnachtsmannes gewisse Ähnlichkeit mit jener meiner Frau aufweist. Aber Sie wissen ja jetzt den Weg!
Frohe Weihnachtszeit!