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Mit 174 km/h zwischen Seengen und Egliswil geblitzt: Knast für Raser ohne Billett, aber kein Landesverweis

Blerim fuhr nicht nur massiv zu schnell; er hat auch keinen gültigen Führerausweis.

Blerim (35) heisst in Wirklichkeit anders. Der Kosovare spricht akzentfrei «Züritütsch». Kein Wunder: Er ist hier aufgewachsen, Schulen, Anlehre als Schreiner, derzeit arbeitslos. Hausmann, denn er ist Vater eines siebenmonatigen Sohns. Seine Frau, die er im Kosovo geheiratet hat, arbeitet in der Fabrik. Zu Lebensunterhalt und Miete tragen auch die Eltern bei. Blerims Frau verdient knapp 4000 Franken im Monat.

Blerim steht vor dem Bezirksgericht Lenzburg wegen einer krassen Verkehrsregelverletzung. So krass, dass eine Gefängnisstrafe beantragt wird. Nach einer Party in Seengen, auf der Fahrt von Seengen Richtung Egliswil, wurde er im Auto seiner Frau, einem Audi A6, mit einem Tempo von 174 km/h erwischt. Ausserorts. Nach Abzug der Toleranz 89 km/h zu schnell. Blerim weiss: Das geht nicht. Er versucht zu erklären: Seine Frau, damals schwanger, habe angerufen, es gehe ihr schlecht. Da sei er in Panik geraten, ins Auto gestiegen, verfahren habe er sich auch noch, denn er wohne im Wynental. Noch mehr Panik. Er fährt nicht nur massiv zu schnell; er hat auch keinen gültigen Führerausweis. Das Zürcher Strassenverkehrsamt hat ihm im Februar 2013 den Führerausweis auf Probe entzogen. Für den Einwand von Gerichtspräsident Daniel Aeschbach, er hätte ja den Eltern telefonieren oder einen Notfalldienst aufbieten können, hat Blerim kein Musikgehör. Panik.

Die Schwiegereltern würden ihn verstossen

Als «nicht so toll» beschreibt er selber seine Situation. Er verbringt den Tag mit seinem Sohn, telefoniere wegen Stellen, mache das Nachtessen. Hausmann.

Ferien in Kosovo? Verwandte? Das Gericht will wissen, wohin er käme, wenn es dem Antrag des Staatsanwalts folgen und ihn für fünf Jahre des Landes verweisen würde. Die Schwiegereltern leben dort, während seine nächste Verwandtschaft in der Schweiz wohne. Ferien in Kosovo? Vor ein paar Jahren als Geschenk für seine Frau. «Meine Heimat ist hier», sagt Blerim, und er wisse nicht, was aus ihm würde, da seine Frau ihn nicht begleiten würde. «Wie soll ich mich finanzieren?» Die Schwiegereltern würden ihn verstossen, sagt er.

Blerim gibt sich handzahm, macht nicht auf Bagatellisierung, hofft auf Gnade. Verweist auf seine Aufgabe beim Aufwachsen des Sohnes, seine Frau arbeite von sechs bis 15 Uhr. Er würde den Vorfall gerne rückgängig machen. Es ist nicht nur die Angst, ein zweites Mal ins Gefängnis gehen zu müssen. Mindestens so stark scheint er seine Ausweisung zu fürchten. Da versteigt er sich zur Aussage: «Ich werde mein Leben lang kein Fahrzeug mehr berühren.»

Staatsanwaltschaft: Risiko für die Bevölkerung ist nicht mehr tragbar

Daniel Aeschbach schlägt einen Perspektivwechsel vor: Wie würde Blerim als Richter entscheiden? Eine Ausschaffung würde die Familie kaputtmachen. Eine Busse als Strafe und eine bedingte Gefängnisstrafe, das wär’s. Sonst würde das die Familie auseinanderreissen. Die Geldstrafe würde Blerim über Jahre abstottern.

Für den Staatsanwalt ist klar: Blerim hat mit seinem Verhalten Schwerverletzte oder Todesopfer in Kauf genommen. Panik? Schutzbehauptung! Dazu kommen einschlägige Vorstrafen. Blerim sei «ein unverbesserlicher Wiederholungstäter, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er wieder straffällig wird». Für eine Landesverweisung spreche die mangelhafte Integration. Zwei Jahre Arbeitslosigkeit, leben vom Lohn der Ehefrau, massive Verschuldung (200’000 Franken), Gefährdung der Sicherheit anderer. Spätestens nach diesem letzten Vorfall sei es «der Bevölkerung nicht zuzumuten, dieses Risiko zu tragen».

Auto wird eingezogen und zu Gunsten der Frau verwertet

Der Verteidiger sieht das anders. Als Familienvater trage Blerim jetzt Verantwortung. Er plädiert für eine bedingte Freiheitsstrafe mit langer Probezeit. Das private Interesse Blerims am Verbleib in der Schweiz überwiege das öffentliche Interesse an der Landesverweisung. Blerim sei integriert, beziehe keine Sozialhilfe und habe bei allen Vorstrafen keine Drittpersonen verletzt.

Für das Gericht ist die Schuldfrage so unbestritten wie für Blerim selber. Es folgt der Staatsanwaltschaft bezüglich unbedingter Freiheitsstrafe: 30 Monate. Daniel Aeschbach: «Sie haben genügend Chancen erhalten und sind jedes Mal glorios gescheitert.» Hingegen verzichtet das Gericht auf eine Landesverweisung: familiärer Härtefall. Das Auto soll eingezogen und verwertet werden, der Erlös der Besitzerin, Blerims Frau, zukommen. Blerim muss für die Verfahrenskosten geradestehen. Wenn er je zu Geld kommt, kann der Staat die Kosten für die amtliche Verteidigung zurückfordern. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.