
Lese- und Schreibunterricht in der Kritik: Jetzt werden Rechtschreibregeln wieder wichtig
«Schreiben ist für Kinder anstrengend»
Professorin Afra Sturm hält wenig davon, die Kinder allzu früh mit Rechtschreiberegeln zu konfrontieren.
Ist die von Jürgen Reichen entwickelte Methode «Lesen durch Schreiben» tatsächlich so gefährlich, dass sie verboten werden muss?
Afra Sturm: Der Basler Reformpädagoge Jürgen Reichen will mit «Lesen durch Schreiben» – so heisst sein Ansatz – vor allem den Leseerwerb unterstützen. Er ging davon aus, dass die Kinder leichter Lesen lernen, wenn sie schreiben. Die Anlauttabelle soll die Kinder dabei unterstützen. Die Anlauttabelle wurde aber nicht von Reichen erfunden, die gibt es schon sehr viel länger. Im Laufe der Zeit wurde «Lesen durch Schreiben», wie es Reichen propagierte, aber in manchen Schulen anders interpretiert und auch als Methode für das Erlernen von Rechtschreibung eingesetzt. Das ging so weit, dass einige Lehrpersonen keine Rechtschreibung mehr vermittelten.
Auch im Aargau?
Wir reden hier von Deutschland. Mit der Realität an den Aargauer Schulen hat das vermutlich wenig zu tun. Hier ist mir keine Lehrperson bekannt, die nach Reichens Methode unterrichtet. Und auch an der Pädagogischen Hochschule FHNW wird «Lesen durch Schreiben» nach Reichen nicht unterrichtet.
Losgelöst von Reichens Ansatz ist das lautgetreue Schreiben unbestritten?
Ja. Das lautgetreue Schreiben ist ein Entwicklungszustand, den jedes Kind durchläuft, ja durchlaufen muss, wenn es in einer Gesellschaft lebt, die wie wir ein Schriftsystem mit einer Laut-Buchstaben-Beziehung pflegt. Das lautgetreue Schreiben und damit auch das Schreiben nach Gehör können wir als Erwachsene weder verbieten noch beschleunigen. Aber wir können Kinder in diesem Entwicklungsschritt mit einem guten Rechtschreibeunterricht unterstützten.
Wäre es nicht sinnvoller, gleich von der 1. Klasse an korrekte Rechtschreibung zu verlangen?
Nein. Es bringt nichts, Schülerinnen und Schüler mit Regeln zu konfrontieren, die sie aufgrund ihres Erkenntnisstandes noch gar nicht nachvollziehen können. Schreibt ein Kind in der ersten Klasse «hbe» statt «habe», muss ich allerdings eingreifen, weil ein Laut nicht verschriftlicht wurde. Das versteht das Kind. Fehlt bei «Hammer» hingegen ein «m», ist eine Korrektur noch nicht zielführend, weil das Kind sie noch nicht versteht.
Was halten Sie von den Forderungen nach einer verbindlichen Lese- und Schreibfibel mit klaren Regeln und Vorgaben?
Das lautgetreue Schreiben macht es möglich, dass die Kinder sehr schnell schriftlich kommunizieren können, obwohl sie die Rechtschreibung noch nicht in allen Facetten beherrschen. Das Kommunizieren ist motivierend. Man darf nicht vergessen: Schreiben ist besonders für Kinder motorisch und kognitiv anstrengend. Kommen die Regeln zu früh, verstehen die Kinder sie nicht; sie lernen im besten Fall einfach Wörter auswendig. Motivation und Kreativität schwinden.
Dass die Regierung eingreift und ein Lehrmittel aus dem Verkehr zieht, kommt doch eher selten vor. Das betroffene Lehrmittel ist zwar weder jugendgefährdend noch politisch unausgewogen. Dennoch ist das Schulbuch «Lesen durch Schreiben» seit Jahren im deutschsprachigen Raum höchst umstritten.
Nun hat die Diskussion auch die Aargauer Politik erreicht. In einer Motion geben die beiden SVP-Grossrätinnen Martina Bircher und Marlise Spörri ihrer Sorge um die schwindenden Rechtschreibekenntnisse der Aargauer Kinder Ausdruck. Sie verweisen dabei auch auf Klagen von Eltern und Lehrbetrieben, die sich über die mangelnde Rechtschreibekompetenz ihrer Kinder und Lernenden beschweren würden.
Für diese Defizite in der Rechtschreibung ist nach Ansicht der Motionärinnen die Lehrmethode «Schreiben nach Gehör» verantwortlich. Deshalb verlangen sie, dass an der Volksschule keine Lehrmittel mehr eingesetzt werden dürfen, die nach dem Prinzip «Schreiben nach Gehör» funktionieren. Und ebenso soll das lautgetreue Schreiben im Aargau künftig möglichst vermieden werden.
Korrigieren: Lieber nicht
In der Kritik steht also vor allem die Schreiblernmethode «Schreiben nach Gehör», die der Basler Reformpädagoge Jürgen Reichen in den 1970er-Jahren entwickelt hat; in der Wissenschaft wird sie auch als «Lesen durch Schreiben» bezeichnet, was immer wieder zu Begriffsverwirrungen führt.
Die Methode funktioniert mit einer Anlauttabelle, aus der sich die Kinder die Buchstaben zusammensuchen sollen, die sie brauchen wollen, um ein Wort zu schreiben. Dabei wählen sie am Anfang die Buchstaben aus, die sie für passend halten; dabei machen sie natürlich ständig Fehler.
Sollen sie zum Beispiel «Vater» schreiben, stossen sie in der Tabelle neben dem Buchstaben F auf das Bild eines Fahrrads und erkennen: «Fahrrad» klingt doch am Anfang wie «Vater», also schreiben sie vielleicht «Fata» statt «Vater». Das kommt oft vor und ist in der Methode explizit vorgesehen: Das Kind soll selber entdecken, wie Schreiben funktioniert und dass es selber Wörter schreiben kann. Erst kommt das Ausprobieren. Die Rechtschreibung ist später dran.
Reichen ging davon aus, dass systematischer Rechtschreibunterricht überflüssig sei. Das wiederum hatte zur Folge, dass es Lehrpersonen gab, welche die Texte der Kinder gar nicht mehr korrigierten. Die Kinder konnten sich kreativ schreibend entfalten, es gab keine Fehler und keine mühsamen Diktate. Und die Eltern waren gehalten, die Texte ihrer Kinder ebenfalls nicht voreilig zu korrigieren.
Kritik aus Bonn
Doch rasch wuchs die Kritik an der Methode, erst recht, als eine Studie nachwies, dass Schüler in der Rechtschreibung immer schwächer wurden. Die von Wissenschaftern der Universität Bonn verfasste Untersuchung kam zum Schluss, dass Schüler am Ende der 3. Klasse deutlich besser in Rechtschreibung waren, wenn sie nach der klassischen Fibelmethode unterrichtet worden waren.
Daraufhin verboten 2016 das Bundesland Baden-Württemberg und die Stadt Hamburg den Einsatz der Methode «Schreiben nach Gehör».
Als erster Schweizer Kanton hat Nidwalden reagiert und die Methode 2018 aus den Schulzimmern verbannt. Und wie steht es mit der kritisierten ReichenMethode im Aargau?
Afra Sturm, Co-Leitern Zentrum Lesen, Medien und Schrift an der Pädagogischen Hochschule FHNW, relativiert: «Diese Auswüchse, wie sie in Deutschland passiert sind, haben nichts mit der Realität an den Aargauer Schulen zu tun», sagt sie. Sie gehe davon aus, dass im Aargau Reichens Methode keine Rolle im Lese- und Schreibunterricht spiele. Auch an der Pädagogischen Hochschule sei sie kein Thema.
Ein Fragezeichen setzt Professorin Afra Sturm auch hinter die vielfach geäusserte Behauptung, heutige Kinder könnten weniger gut schreiben, als das früher der Fall war: «Es gibt da keinen eindeutigen Befund. Verschiedene Studien liefern unterschiedliche Antworten, je nachdem, wie Rechtschreibung gemessen wird.»
«Lautgetreues Schreiben» erlaubt
Der Regierungsrat teilt dennoch das Anliegen der Motion. Er lehnt das Konzept «Schreiben nach Gehör» nach Jürgen Reichen ebenfalls ab. Deshalb streicht er das entsprechende Lehrmittel von der Liste der zulässigen Lehrmittel, verbietet das Unterrichten dieser Methode und hält auch die Pädagogische Hochschule an, die Methode den Studierenden nicht zu vermitteln.
Zudem werden die Schulleitungen darüber informiert, dass die von Jürgen Reichen entwickelte Methode «Schreiben nach Gehör» sowie das Lehrmittel «Lesen durch Schreiben» und «Lara und ihre Freunde» ab Schuljahr 2020/21 nicht mehr angewendet werden dürfen.
Anders als die Motionärinnen hält der Regierungsrat aber am «lautgetreuen Schreiben» fest. Denn es handle sich dabei um einen Entwicklungsschritt, den jedes Kind beim Schrifterwerb durchläuft. Die Regierung verlangt aber, dass auch beim lautgetreuen Schreiben Korrekturen angebracht werden: Schreibt ein Kind etwa «Ato» statt «Auto», so muss die Lehrperson korrigierend eingreifen, da nicht alle Laute verschriftlicht wurden. Sobald es den Schülerinnen und Schülern gelingt, alle Laute in den Wörtern zu verschriftlichen, werden stetig weiterführende Rechtschreibregeln verlangt.
Als Hilfsmittel unverdächtig bleibt die Anlauttabelle, die den Lauten Buchstaben zuordnet. Durch dieses Arbeitsinstrument sind die Kinder viel früher in der Lage, Texte zu schreiben.
Weil die Motion aber ausdrücklich auch ein Verbot des lautgetreuen Schreibens verlangt, lehnt die Regierung den Vorstoss trotz weitgehender Einigkeit ab. Denn das lautgetreue Schreiben erweist sich als sinnvoll und effektiv und vor allem: Es ereignet sich von selbst, wenn ein Kind lesen lernt, und es lässt sich, auch wenn man es wollte, nicht vermeiden.
Die Vorgaben im neuen Lehrplan
Der neue Aargauer Lehrplan macht verbindliche Angaben zur Rechtschreibekompetenz. In der Aus- und Weiterbildung wird den Lehrpersonen vermittelt, wie sie Rechtschreibung systematisch lehren, wie sie Schülerinnen und Schülern aber auch das Korrigieren der eigenen Texte beibringen sollen.
Auch für den Bereich Rechtschreibung gilt, was für den ganzen neuen Lehrplan gilt: Der Unterricht beginnt beim Einfachen und baut danach den Kompetenzerwerb systematisch und repetitiv vom Kern zum Speziellen aus.
Mit diesen verbindlichen Vorgaben im neuen Lehrplan ist sichergestellt, dass die Aargauer Kinder, auch was die Rechtschreibung betrifft, von der Schule angemessen auf das Leben vorbereitet werden.