
Millionen-Ausfälle: So viel hat der Lockdown die Aargauer Spitäler gekostet

Es hat Seltenheitswert. Aber am Dienstag waren sich für einmal (fast) alle Grossrätinnen und Grossräte einig. Mit 111:8 Stimmen bei zwei Enthaltungen haben sie eine Standesinitiative für erheblich erklärt. Diese verlangt, dass sich der Bund an den coronabedingten Ertragsausfällen und Mehrkosten der Spitäler, Psychiatrien und Rehakliniken beteiligt.
Der Bundesrat hatte am 16. März beschlossen, dass Gesundheitseinrichtungen auf nicht dringende medizinische Eingriffe und Therapien verzichten müssen. So sollte gewährleistet werden, dass genug Spitalbetten für Coronapatienten zur Verfügung stehen. Während eineinhalb Monaten galt diese Regel. Sie hat nicht nur den Spitälern, sondern auch den Rehakliniken oder Psychiatrien ein Loch in die Kasse gerissen. Der Regierungsrat schätzt den Gesamtschaden im Kanton Aargau auf 95 Millionen Franken. Noch offen ist die Frage, wer für die Ausfälle und Mehrkosten aufkommen soll. Der Bund? Die Kantone? Die Krankenkassen?
Für die Aargauer Grossratsmitglieder ist klar: Der Bund, der das Verbot verfügt hat, soll sich nicht einfach aus der Verantwortung ziehen. Die Ertragsausfälle seien grösstenteils auf den Bundesbeschluss zurückzuführen, sagte Martina Sigg (FDP). «Wir haben ein grosses Interesse daran, dass sich der Bund an den Ausfällen und Mehrkosten, die er mitverursacht hat, beteiligt.» Es sei wichtig, dass die Kantone in dieser Sache den Druck auf den Bund hochhalten. «Wir sind nicht alleine», sagte Sigg. Sie wisse von ähnlichen Forderungen aus Zürich, den beiden Basel, Schaffhausen und Genf.
Bundesrat Alain Berset hatte letzte Woche erneut klargestellt, dass er die Spitäler nicht für abgesagte Eingriffe und Behandlungen entschädigen wolle. Der Gesundheitsminister geht davon aus, dass die Spitäler die Behandlungen nachholen können. Gesprächsbereit zeigte sich Berset einzig bei den Mehrkosten, die zum Beispiel für Schutzmassnahmen angefallen sind.
Dem Kantonsspital Baden fehlen fast 20 Millionen
Die AZ hat bei verschiedenen Spitälern, Rehakliniken und den Psychiatrischen Diensten Aargau (PDAG) angefragt, wie hoch die Ausfälle und Mehrkosten waren. Nicht alle haben Zahlen geliefert. Aber alle teilten mit, die Ausfälle seien «beträchtlich» oder «sehr beachtlich». In Menziken machen sie «einen substanziellen Anteil des Ergebnisses» aus.
Zahlen lieferte zum Beispiel das zweitgrösste Spital im Kanton, das Kantonsspital Baden (KSB). Dort fehlen Erträge von bis zu 19,5 Millionen Franken gegenüber dem Vorjahr. Dazu kommen mindestens drei Millionen Franken zusätzliche Kosten, die aufgrund der ausserordentlichen Umstände entstanden sind. Darunter fallen zum Beispiel Ausgaben für Schutzkleidung und Masken oder für den Umbau der Intensiv- und Notfallstation.
Seit Ende April dürfen die Spitäler wieder alle Eingriffe durchführen. Einen Nachholeffekt stellen von den angefragten Institutionen aber nur das KSB und die Hirslanden Klinik Aarau fest. Baden meldet, dass die Anzahl der stationären und ambulanten Eingriffe in den Sommermonaten über den Werten des Vorjahres lag. Auch der Case-Mix-Index, der den Schweregrad einer Behandlung angibt, sei weiter angestiegen. «Dies ist nicht zuletzt auf Patienten zurückzuführen, deren Krankheiten und Leiden während des Lockdowns nicht adäquat behandelt werden konnten», sagt Sprecher Omar Gisler.
Die Hirslanden Klinik wiederum spüre eine «sehr hohe Nachfrage» und habe seit Mai «deutlich mehr Patientinnen und Patienten behandelt als im Vorjahr», sagt Sprecher Philipp Lenz. Die Klinik sei «voll ausgelastet». Trotzdem seien die hohen finanziellen Einbussen im März und April nicht wettzumachen.
Nur etwa jeder Zehnte hat Spitalaufenthalt nachgeholt
Das Spital Muri teilt hingegen mit, es könne kein Aufholeffekt festgestellt werden. Höchstens 10 bis 15 Prozent der Patientinnen und Patienten, die auf Anordnung des Bundes nicht behandelt werden durften, hätten ihren Spitalaufenthalt nachgeholt. «Sie haben nach wie vor Angst, sich im Spital anzustecken und verzichten deshalb auf Untersuchungen, Behandlungen und Therapien», sagt Sprecherin Martina Elisabeth Wagner. Das Spital Leuggern stellt ausser bei den Prothetikfällen bis jetzt keinen Nachholeffekt fest. Und auch in Menziken ist der Aufholeffekt ausgeblieben. «Wir stellen eher fest, dass insbesondere in den invasiven Disziplinen eher eine generelle Zurückhaltung vorherrscht», sagt Spitaldirektor Daniel Schibler.
Weist die Coronakrise auf eine Überversorgung hin?
Während einige Spitäler den ausbleibenden Nachholeffekt mit der Angst der Patientinnen und Patienten erklären, haben nationale Gesundheitspolitikerinnen und Politiker noch eine andere – für die Spitäler unbequemere – Erklärung. Sie fragen sich, ob Corona eine Überversorgung offenbart. «Der Schluss liegt nahe, dass viele der geplanten Eingriffe nicht nötig waren», sagte etwa Ruth Humbel, Aargauer CVPNationalrätin und Präsidentin der Gesundheitskommission, gegenüber der «NZZ am Sonntag». Auch der Krankenkassenverband Santésuisse hält fest: «Wenn Eingriffe nicht nachgeholt werden, würde dies bedeuten, dass diese tatsächlich nicht notwendig waren.»