Nationalratspräsident in der Kritik: Weshalb blieb der höchste Schweizer stumm?

Die Tessinerin Chiara Simoneschi-Cortesi war eine resolute Politikerin. Als Präsidentin des Nationalrates 2009 hatte sie den Ruf einer Oberlehrerin. Die SVP wollte sie gar absetzen, weil sie dem Zürcher Nationalrat Christoph Mörgeli einmal das Mikrofon abgestellt hatte.

Doch die Christdemokratin schonte auch die Linke nicht. SP-Präsident Christian Levrat erhielt einen Rüffel, als er von der FDP verlangte, sie müsse sich von den «goldenen Fesseln» der UBS befreien. Prompt wurde er von Simoneschi gestoppt, die einen Akt der Respektlosigkeit vermutete. Dabei es war es ein Missverständnis: Statt «Fesseln» hatte sie «fesse» verstanden, was auf französisch «Hintern» heisst.

In Simoneschis Präsidialjahr fiel auch der letzte Nazi-Vergleich. Thomas Müller – damals noch CVP, heute SVP – verglich den einstigen deutschen Finanzminister Per Steinbrück mit einem Nazi: «Er erinnert mich an jene Generation von Deutschen, die vor sechzig Jahren mit Ledermantel, Stiefel und Armbinde durch die Gassen gegangen sind.» Ratspräsidentin Simoneschi reagierte zwar nicht sofort.

Stunden später sagte sie aber: «Hätte ich diese Aussage in diesem Moment richtig wahrgenommen, hätte ich Herrn Müller zurechtgewiesen. Seine Aussage ist deplatziert und beleidigend. Ich habe es Herrn Müller persönlich gesagt. Ich entschuldige mich als Ratspräsidentin dafür.»

Eine Gratwanderung

Als der Aargauer Grüne Jonas Fricker Schweinetransporte mit Judendeportationen verglich, blieb es still im Saal. Einzig SVP-Nationalrat Roland Büchel (SG) reagierte – und er zeigt sich irritiert darüber, dass niemand sonst intervenierte.

Auch Nationalratspräsident Jürg Stahl (SVP) blieb stumm. Er sagt: «Mir war nach dem Votum von Jonas Fricker sofort klar, dass ich mit dem Fraktionschef der Grünen das Gespräch suchen muss. Als sich Fricker jedoch im Rat in einer persönlichen Erklärung für seinen Vergleich entschuldigte, war für mich als Ratspräsident in diesem Moment die Angelegenheit erledigt.»

Der höchste Schweizer fühlte sich nicht verantwortlich, eine Relativierung des Holocausts zu rügen. Stahl sagt: «Bei persönlichen Angriffen gegen ein Mitglied des Rates oder der Landesregierung, interveniere ich sofort. Die Debatten sind manchmal hart, wenn sie die Regeln des Anstandes nicht verletzen, lasse ich sie laufen.»

Stahls Vorgängerin, die Berner FDP-Politikerin Christa Markwalder spricht von einer Gratwanderung: «Als Ratspräsident ist man keine Zensurbehörde.» Man müsse in der Beurteilung einer Situation sehr schnell sein. Ähnlich äussert sich die Grüne Maya Graf (BL), die den Rat 2013 präsidierte. Als Präsidentin habe man eine Verantwortung. Doch es sei eine Ermessensfrage, wo man die Grenzen ziehe.

Graf hatte während ihres Präsidialjahres stets das Geschäftsreglement vor sich liegen. Darin heisst es, dass der Präsident Sitzungsteilnehmer zur Ordnung aufruft, die sich beleidigend äussern, nicht zur Sache sprechen, die Redezeit überschreiten oder andere Verfahrensvorschriften verletzen. Nebst dem Reglement, sagt Graf, gebe es natürlich auch die Bundesverfassung und dort ist die Würde des Menschen verankert. Wie sie an Stahls Stelle reagiert hätten, wollen weder Markwalder noch Graf sagen.

Grundsätzlich meint die Baselbieter Nationalrätin aber, dass man die Debatten als Präsidentin wirklich verfolge. Man könne auch abschätzen, bei welchen Themen die Voten hitzig werden – Asyl, Flüchtlinge, EU etwa- und bei welchen Votanten man besonders gut hinhören müsse.

Alt Politikerin Chiara Simoneschi hat in kein Verständnis für das Schweigen von Jürg Stahl: «Der Ratspräsident, als höchster Repräsentant des Volkes, muss der erste sein, der an die Werte und die Prinzipien in der Verfassung erinnert.» (Doris Kleck)