Pannenstreifen als Fahrspur: Urteil wirft neue Fragen auf – VCS als «Verhinderungsclub»?

Ein- und Ausfahrten verlängert – Projekt auf A1 ohne Auflage realisiert

Seit gut einem Jahr rollt der Verkehr auf mehreren Abschnitten der A1 im Aargau auf dem Pannenstreifen. Die Ein- und Ausfahrten bei den Anschlüssen Aarau Ost, Lenzburg und Mägenwil wurden verlängert. Zuvor waren diese zwischen 100 und 260 Meter lang, was in Stosszeiten zu Rückstau auf die Autobahn führte. Neu sind die Einfahrten bis zu 700 Meter, die Ausfahrten bis zu 1,3 Kilometer lang. Warum gab es bei dieser Pannenstreifen-Umnutzung keine Beschwerde? VCS-Aargau-Präsident Jürg Caflisch sagt auf Anfrage: «Die Verlängerung wurde im Amtsblatt wohl nicht publiziert oder – was möglich, aber unwahrscheinlich ist – der VCS hat die Publikation übersehen.» Der Verband hätte den Sachverhalt sicher von Juristen prüfen lassen. «Immerhin hat die Verlängerung den gleichen Effekt wie jetzt die Pannenstreifenumnutzung», sagt Caflisch. Ob eine Publikation zwingend gewesen wäre, werde der VCS prüfen. «Für dieses konkrete Projekt ist der Zug aber abgefahren». Das Bundesamt für Strassen äussert sich auf Anfrage nicht zur Frage, ob die Verlängerung der Ein- und Ausfahrten auf der A1 und das Projekt auf der A3 im Fricktal vergleichbar seien. Im Sommer 2015 hatte eine Sprecherin allerdings gesagt, die baulichen Anpassungen auf der A1 müssten nicht öffentlich aufgelegt werden. (fh)

Das Bundesverwaltungsgericht hat eine Beschwerde des Verkehrs-Clubs der Schweiz (VCS) gutgeheissen und entschieden, dass für das Projekt, das die Umnutzung des Pannenstreifens in eine weitere Fahrspur vorsieht, eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) nötig ist. In einer Medienmitteilung schreibt der VCS, das Urteil könne als Grundsatzentscheid und Präjudiz betrachtet werden. Das Astra dürfe «den schleichenden Autobahnausbau via Pannenstreifen-Umnutzung nicht länger am Umweltrecht vorbeischmuggeln».

Support bekommen Bundesverwaltungsgericht und VCS von Grossrätin Gertrud Häseli (Grüne, Wittnau). Wer Verkehr säe, werde Strassen ernten, und wer Strassen baue, werde Verkehr ernten, sagt sie. Der motorisierte Individualverkehr sei eine grosse Belastung für die ganze Bevölkerung in Bezug auf CO2, Lärm, Landverbrauch. «Deshalb ist es richtig und wichtig, mit einer UVP zu überprüfen, ob die zusätzliche Spur bewilligungsfähig ist», sagt Häseli.

Ganz anders sieht dies Roger Fricker, Gemeindeammann von Oberhof und langjähriger SVP-Grossrat. Für ihn ist der «Fall A3» ein «weiterer Beweis, dass das Verbandsbeschwerderecht abgeschafft gehört». Der VCS sei ein Verhinderungsclub, die Einsprache verzögere «eine gute Sache». Fricker verweist auf die A1, wo die Pannenstreifen-Umnutzung realisiert wurde. «Dies hat zu einer Verkehrsverflüssigung auf den Hauptspuren geführt.» Der Postautochauffeur hofft, dass die Pannenstreifennutzung auf der Autobahn durch das Urteil nicht allzu lange verzögert wird. «Es ist derzeit die beste Lösung – zumal man davon ausgehen kann, dass in absehbarer Zeit eine dritte Spur gebaut wird».

Kritik aus Rheinfelden

Grossrat Roland Agustoni (GLP, Rheinfelden) kann der Umweltverträglichkeitsprüfung nichts abgewinnen. «Das ist eine Verzögerung, die nicht nötig ist. Danach wird die Nutzung des Pannenstreifens als Ausfahrt gleichwohl bewilligt», ist er überzeugt. Das Argument, die Pannenstreifennutzung könnte zu einer Verkehrsausweitung führen, findet Agustoni «an den Haaren herbeigezogen». Die Massnahme führe vielmehr dazu, dass der Verkehr besser fliesse. «Es ist eine Erleichterung.» Für die Einsprache des VCS hat er «kein Verständnis». Klar ist für Agustoni aber, dass die Nutzung des Pannenstreifens nicht definitiv sein kann. «Es muss eine andere Lösung gefunden werden, um den Rückstau zu verhindern.»

Wenig Freude hat man auch in Rheinfelden über die Verzögerung. Die Stadt erachtet nämlich den Vorschlag des Bundes, zwischen Rheinfelden und Pratteln die Pannenstreifen als zusätzliche Fahrspur zu nutzen, «als sinnvoll», wie Stadtschreiber Roger Erdin auf Anfrage sagt. So könne «mit geringem finanziellem Aufwand das Nadelöhr vorerst entschärft und mit Sicherheit eine Verbesserung der heute zu Hauptverkehrszeiten ungünstigen Stausituation erzielt werden». Vor diesem Hintergrund habe die Region ein grosses Interesse daran, dass das Projekt «sehr bald» realisiert werden könne. «Wir hoffen, dass die vom Bundesverwaltungsgericht verlangte Umweltverträglichkeitsprüfung dies bestätigen wird.»