
Pioniere, die sich selber überforderten: Warum das Hochhaus ein Revival feiert

Es gibt Häuser und Häuser. Die meisten lassen uns kalt, von aussen wie von innen. Wir benutzen sie, weil sei dafür gebaut wurden. Und dann gibt es Hochhäuser. Zwar wurden auch sie gebaut zum Gebrauch, aber nicht nur: Das Hochhaus überragt uns und die Umwelt, regt auf zu Aus- und an zu Aufbrüchen.
Es verstärkt quasi unseren Charakter: Wer ohnehin um die Kürzung seiner Weitsicht bangt, der nimmt es oft als Anlass zur Fortschrittskritik – und wer auf den Fortschritt hinarbeitet, dem bietet es Gelegenheit zum Ausbau der Weitsicht.
Ein jeder baut nach seinem Sinn
Der Aargau, der sich seit je behauptet zwischen den «Metropolitanräumen» Zürich, Basel und Bern, war prädestiniert für den Bau in die Höhe mit Wirkung in die Weite. Das erste Hochhaus der Schweiz wurde zwar 1932 in Lausanne gebaut (Tour Bel-Air), das erste Wohnhochhaus im gleichen Jahr in Fribourg. Und 1952 erstellte der Zürcher Stadtbaumeister persönlich die ersten Wohnhochhäuser der Deutschschweiz. Doch dann folgte bald der Aargau.
Spreitenbach, 1955. Das Bauerndorf ist «ohne Auto nicht gut zu erreichen, der Bahnhof in Killwangen liegt ausserhalb praktischer Fussdistanz», wie Andreas Steigmeier in der «Ortsgeschichte» von 2000 schreibt. Der Steuerfuss ist relativ hoch, noch dazu liegt man am schattigen Nordhang.
Obwohl die Kantonsgrenze bis jetzt die Ausbreitung der Zürcher Vororte gehemmt hat, bemerkt man auch in Spreitenbach, dass nebenan immer mehr gebaut wird – und dass auch das Land hier bald begehrt sein würde.
Als Architekt Mario Della Valle aus – natürlich: Zürich – am 28. Februar 1955 die Gemeinde über eine Änderung an seinem geplanten Einfamilienhausquartier informiert, wird das nicht als Schicksalsmoment begriffen. Man weiss wohl, was ein Zonenplan und eine Bauordnung sind, aber existieren tut nichts davon.Es gilt der Spruch, der im «Sternen»-Saal an der Wand prangt: «Ein jeder baut nach seinem Sinn, denn keiner kommt und zahlt für ihn.»
So schreibt Della Valle wie selbstverständlich, er baue «alles kleine, freistehende Einfamilienhäuser, und als Akzent ein Mehrfamilienhaus. Dies Letztere möchte ich nun als Hochhaus ausbilden.» 20 Stockwerke. Obschon das dem Gemeinderat nicht behagt, interveniert er nicht. Er ist damit beschäftigt, die Bauordnung fertigzustellen, denn das «streuweise Bauen» auf dem Feld gefällt ihm genauso wenig.
Spreitenbach wundert sich
Della Valle beginnt in der Gyrhalden zu bauen, das Haus wächst schnell in die Höhe. Jetzt lädt die Gemeinde den Architekten vor. Er müsse sich auf drei Etagen beschränken. Im Sommer 1955 stehen vier Etagen, alle wundern sich, wie hoch das Haus noch werden soll. Der Nachbar verlangt Baustopp. Der Heimatschutz befindet es «schon mit dem begonnenen fünften Stockwerk zu hoch».
Die Dorfgemeinschaft ist entrüstet, schreibt Leserbriefe, richtet eine Petition an den Gemeinderat. Doch dieser ändert seine Meinung: Della Valle hat finanzkräftige Steuerzahler als Mieter versprochen, dazu Platz für ein Feuerwehrmagazin und eine Transformerstation. Einstimmig beschliesst der Rat, nicht gegen einen Ausbau mit «etwa zwölf Stockwerken» zu sein.
Das ruft die Kantonsregierung auf den Plan. Sie erscheint in corpore samt Staatsschreiber (!) auf der Baustelle. Das Fazit ist vernichtend: zusammenhangslos, unschön, die Landschaft verunstaltend. Allerdings, bemerkt die Regierung, sei «nicht ausgeschlossen», dass das Gebiet in absehbarer Zeit überbaut werde, und sich so das Haus nachträglich einfügen könnte.
Resultat: Man verbietet den Weiterbau – vorerst. Es folgt ein juristisches Hickhack bis vor Bundesgericht. Der Bau steht still, in der Zeitung wird er als «modernste Ruine der Schweiz» verspottet, Nachbarsfrauen hängen darin ihre Wäsche auf.
Ballone statt Profilstangen
Gemeinde und Kanton brauchen drei Jahre, um den Fortschritt einzuholen. 1959 steht endlich ein Teilzonenplan Gyrhalde. 12 Geschosse dürfen es werden. Und nach hitziger Diskussion erlaubt die Gemeindeversammlung Della Valle sogar, in einem 13. Stock sein Architekturbüro einzurichten.
Weil es beim Bezug schon 1960 ist, wurde die «Gyrhalde» zwar als erstes Hochhaus im Aargau begonnen, aber nicht als erstes fertiggestellt. Visionär denkt man nämlich zur gleichen Zeit am Kantonsspital Aarau, wo 1956 ein 11-stöckiges Schwesternhaus gebaut wird. Emil Aeschbach, Architekt aus Küttigen, will nach Südfrankreich auswandern und «vorher noch etwas Verrücktes machen», wie er sich 2017 bei der jüngsten Renovation in der «AZ» erinnert. Als man ihm erklärt, Seine Idee habe den Wettbewerb gewonnen, will er es nicht glauben. Der Pionier ist überrascht von so viel Pioniergeist.
Profilstangen in dieser Höhe gibt es nicht, man lässt zur Visualisierung Ballone steigen. Ohne es zu wissen, bereitet Aeschbach indirekt eines der bekanntesten (und das nach dem Basler Roche-Turm aktuell zweithöchste) Hochhaus der Schweiz vor: Seine Praktikantin während des KSA-Baus ist Esther Guyer, die später selber berühmte Architektin wird und deren Sohn Mike den Zürcher Prime-Tower mit entwirft.
Fortschritt um jeden Preis
Im gleichen Jahr, 1956, entsteht in Windisch das vermutlich schönste Hochhaus im Kanton: das Verwaltungsgebäude der Kabelwerke Brugg. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Architektur geprägt von der Aufbruchstimmung.
Der kantonale Denkmalpfleger Reto Nussbaumer sagt es so: «Man hat moderne Formen, Bautechniken und Materialien gesucht und gefunden.» Der Bau vom Architekten Carl Froelich (Brugg) und Hans Kündig (Zürich) dürfe in dieser Hinsicht «als das eleganteste und filigranste der frühen Hochhäuser im Aargauer bezeichnet werden.»
Nach den Startschwierigkeiten mit überforderten Behörden gewöhnt man sich an das Hochhaus. Wer sich als Teil des Fortschritts sieht, will eines – oft um jeden Preis. Die Alu Menziken baut für sich 1962 ein Bürohochhaus.
In Reinach entsteht 1964 ein Wohnhochhaus, das via Radio berühmt wird. Am Sonntagabend sendet DRS in Zusammenarbeit mit der Kantonspolizei «Chömed guet hei». Live-Moderation vom Dach. Die Geburtsstunde der Verkehrsnachrichten.
In Baden legt die Buchdruckerei AG (Aargauer Volksblatt) vor: Sie präsentiert 1957 ein Projekt am Fusse der Ruine Stein. Kritiker monieren, der «Turm» konkurrenziere das historische Denkmal – und werden dazu ermuntert, «das Hochhaus als einen neuen Stadtturm» zu sehen, wie Barbara Welter in den Badener Neujahrsblättern von 2002 schreibt. 9 Etagen werden bewilligt. 1959 wird ein 14-geschossiges Hochhaus auf dem Lindenareal bewilligt.
1960 legt die direkte Konkurrenz des «Volksblatts», das Badener Tagblatt, nach: Verleger Otto Wanner präsentiert ein eigenes Projekt. Wieder monatelange Diskussionen, 1962 die Baubewilligung. Im Gutachten wurde die Kritik umgedeutet: Der Bau markiere die Abzweigung zum neuen Strassentunnel durch den Stein, «bildet also, ähnlich der Richtstange im Slalom, einen Wegweiser.»
Viel wichtiger aber war, dass man die Konkurrenz ennet der Geleise um mehrere Meter überragte. In der Sonderbeilage zur Eröffnung hiess es: «Je nach Blickwinkel: Manifest oder Provokation.»
1970 machen in Oftringen fast zeitgleich vier Tante-Emma-Lädeli dicht. Weil man den Hausfrauen den Fussweg nach Zofingen oder Aarburg ersparen will, entsteht das Einkaufszentrum mit dem EO-Hochhaus. Und in Aarau wird mit dem Telli-Hochhaus begonnen.
Es ist seither mit 85 Metern das höchste Gebäude im Kanton. Aber auch nur, weil es gerettet wurde: Die Erbauerin Horta ging kurz nach Vollendung in Konkurs. Der Kanton brauchte zugleich ein neues Verwaltungszentrum.
Der Grosse Rat entschied sich nach homerischer Debatte mit über 20 Rednern mit 84 zu 82 Stimmen für den Kauf. Und bewahrte damit das Wahrzeichen des Fortschritts vor dem Zerfall.
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