Poetry-Slam-SM: «Ich stockte und war den Tränen nah»

Der 19-jährige Aargauer Jeremy Chavez schreibt sich Dinge von der Seele, die ihn aufregen. Mit den Texten, die so entstehen, hat er Erfolg: Er wurde in seiner Alterskategorie zum Schweizer Meister im Poetry Slam gekürt. Am Tag nach seinem Titelgewinn spricht er von seinen Erfahrungen.

Haben Sie nach dem gestrigen Sieg gut geschlafen?

Jeremy Chavez: Schlussendlich ja, aber viel nicht.

Auf Ihren Text über Rassismus und Extremismus, den Sie in der ersten Finalrunde performten, reagierte das Publikum begeistert. Ihre Emotionen wirkten echt.

Der Text ist für mich auch sehr emotional. Vor zwei Monaten trat ich damit zum ersten Mal auf. Im zweiten Teil verlor ich den Faden, stockte und war den Tränen nah, weil es mir so nahe ging. Dann nahm ich das Blatt hervor und las den Rest ab. Auf das Finale hin habe ich versucht, Abstand zum Text zu gewinnen, aber zugleich die Emotionen beizubehalten. Es sollte so klingen, als wäre jedes Wort ein Pistolenschuss. So lange habe ich vorher noch nie an einem Text gearbeitet.

Warum?

Es sind krasse Erlebnisse, die ich darin verarbeite. Andererseits wollte ich schon lange einmal probieren, meine Sicht auf die Ursachen von Extremismus zu erklären. Wie etwa in der einen Zeile (beginnt zu rappen): «Und wenn keiner an dich glaubt, dann ist die letzte Endstation irgendwann halt nur noch eine Religion, da erzählt dir ein Prophet …»

Was für Erlebnisse sind das?

Eines war eine Busfahrt nahe meines Wohnorts Villmergen. Eine alte Frau fuhr plötzlich einen jungen Mann an, obwohl dieser nichts gemacht hatte. Ich sagte zu ihr: «Sorry, gehts noch?» Darauf beschimpfte sie uns wegen unseres ausländischen Aussehens, wir sollten doch zurück in unser Heimatland gehen. Ein anderes Erlebnis war im Zug. Ein Vater zeigte vor seinen Kindern auf ein Mädchen, das neben mir sass. Sie fahre sicher schwarz, man müsse aufpassen vor «denen». Das Mädchen begann den Mann zu filmen, worauf er ihr das Handy aus der Hand schlug.

Was war der Hintergrund des zweiten Textes über übertrieben gesunde Ernährung, mit dem Sie gewonnen haben?

Hier ging ich von einem Wortspiel aus, das ich mal notiert hatte: «Ich wage kaum aufzustehen, auf die Waage drauf zu stehen.» Ich finde die Diskussion darüber, was man essen soll und was nicht, so absurd. Ein First-World-Problem, aber es beschäftigt die Leute sehr. Ich habe viele Kolleginnen und Kollegen mit Kalorienzähl-Apps, was ich stupid finde. Am meisten regt mich die Selbstdarstellung auf. Jeder Ingwerwurzel-Sirupsmoothie-Weissichwas muss sofort online.

Wie sind Sie zum Poetry Slam gekommen?

Ich nahm an zwei Slams an meiner Schule, der Kanti Wohlen, teil. Bei uns kommt Poetry Slam in der Regel im Deutschunterricht vor. Letztes Jahr machte ich bei U20-Vorrunden auf kantonaler Ebene mit. So qualifizierte ich mich für die Meisterschaft.

Wieso slammen Sie?

Ich bin einer, der viel nachdenkt. Das ordne ich alles, indem ich es auf Papier bringe. Und ich erzähle extrem gerne Geschichten.

Haben Sie ein Slam-Vorbild?

Dominik Muheim! Er ist ein Mentor von mir und auch Benjamin Flur Koch, mit dem ich im Teamfinale antrete. Er hat uns viele Tipps gegeben und fiebert bei unseren Auftritten wie ein Fussballtrainer an der Seitenlinie mit.