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Lenzburger Schule unterbindet «Squid Game»-Spiel – zu Recht? Medienpädagoge und langjähriger Schulleiter sind uneins

PRO – Philippe Wampfler: «Die wahren Wurzeln von Gewalt unter Kindern werden nicht analysiert und angegangen»

Wenn eine Gefahr in der Öffentlichkeit übertrieben wahrgenommen und dargestellt wird, kann eine moralische Panik entstehen. Rund um die koreanische Serie «Squid Game» ist genau das passiert: Kinder, so die Befürchtung, würden durch die Serie dazu animiert, auf Pausenplätzen gewaltsame Spiele zu spielen. Die blutigen Szenen würden sie dazu bringen, andere zu erniedrigen und zu quälen. Mit dieser Angst ist die Entrüstung darüber verbunden, dass Kinder eine Serie kennen, die klar für Erwachsene gemacht ist und erst ab 16 Jahren überhaupt zugänglich sein sollte. Doch wer kontrolliert schon die Alterseinstellungen bei Netflix?

Philippe WampflerMedienpädagoge und früher Lehrer an der Kantonsschule Wettingen

Tatsächlich kennen Kinder «Squid Game», weil Szenen der Serie längst zu sogenannten Memes geworden sind, die auf TikTok die Runde machen. Influencerinnen und Influencer spielen Szenen nach, erzählen von «Squid Game» und tragen die einprägsamen pinken Kostüme und die schwarzen Masken. Und dann erzählen sich Kinder auf dem Schulweg auch, was sie auf TikTok und Netflix gesehen haben: Dass es eine Serie gebe, in der Erwachsene Kinderspiele spielen müssen und getötet werden, wenn sie verlieren.

So gesehen wirkt das Phänomen einigermassen harmlos. Solche Geschichten haben sich Kinder immer erzählt. Nur: Offenbar gibt es aber wirklich Schülerinnen und Schüler, welche die Serie in der Schule nachspielen und andere quälen und verletzen. Zuletzt passierte dies auch im Aargau, an der Schule Lenzburg, wie die AZ berichtete. Ist «Squid Game» also doch nicht so harmlos?

Gewalt an Schulen ist nie harmlos. Hier braucht es rote Linien, klare Regeln und Lehrpersonen, die engagiert gegen jede Form von Gewalt und Mobbing eintreten. All das sollte selbstverständlich sein und ist es an den meisten Schulen auch. Dass die Gewalt in Geschichten eingekleidet und damit entschuldigt wird, ist nichts Neues und nicht auf «Squid Game» beschränkt – Kinder spielen auch brutale Sport-Szenen oder Cartoons nach.

Die moralische Panik verteufelt «Squid Game» und Netflix. Sie gibt vor, die Gewalt entstünde aus neuen medialen Formen – wie das schon bei Computerspielen und Rap-Musik der Fall war. Daran sieht man, wozu die Panik dient: Zur sozialen Kontrolle von Kindern und Jugendlichen, deren kulturelle Ausdrucksformen verboten und beschränkt werden sollen.

Gleichzeitig werden damit die wahren Wurzeln von Gewalt unter Kindern nicht analysiert und angegangen. Mobbing und Übergriffe sind auch deshalb an Schulen nicht auszumerzen, weil Schulen Druck auf Kinder ausüben, um sie auf eine Leistungsgesellschaft vorzubereiten, in der alle miteinander in Konkurrenz stehen. Das ist genau der Aspekt, den «Squid Game» kritisiert: Die Serie zeigt einen unmenschlichen Wettbewerb zwischen Menschen in ausweglosen gesellschaftlichen Situationen. Einer von ihnen gewinnt viel Geld – alle anderen sterben.

Paradoxerweise funktioniert das Bildungssystem ganz ähnlich: Wer mit schlechten Bedingungen startet, hat eine geringe Chance, den Zugang zu Wohlstand und einem erfüllenden Beruf zu erhalten. In den meisten Fällen werden aus diesen Kindern aber schlecht qualifizierte Arbeitskräfte, die Salat und Spitalbettzeug waschen. Gewalt kann ein Ventil sein, um mit diesem Druck umzugehen. Darüber sollten wir mehr sprechen – nicht über Kinder, die eine koreanische Serie faszinierend finden.

CONTRA – Ueli Zulauf: «Die Empfehlungen von Experten erreichen nur jene Familien, die schon sensibilisiert sind»

Der Streaminggigant Netflix erlebt zurzeit eine Wachstumsbaisse. Eben noch hatte er dank Corona-Lockdowns gute Geschäfte gemacht, wollten doch Millionen von zu Hause herumhockenden Menschen unterhalten werden. Während sich die Menschen langsam an zurückgewonnenen Freiheiten erfreuen, sorgt man sich bei Netflix um das abflachende Interesse von Neuabonnentinnen und -abonnenten. Dabei besinnt man sich offenbar auf den neben Sex verlässlichsten Wachstumstreiber: Gewalt.

Ueli ZulaufLangjähriger Schulleiter an grossen und kleinen Schulen im Kanton Aargau

Mit «Squid Game» ist man wieder im Geschäft, nicht zuletzt dank gütiger Mithilfe der klassischen Medien, die das Machwerk ausführlich analysieren und kommentieren. Auch als zeitungslesender Nicht-Netflixabonnent und Social-Media-Abstinent bin ich daher bestens informiert über den Inhalt der «Brutalo-Serie» (NZZ) und deren überwältigende weitweite Resonanz. Auch medienpädagogisch Sachverständige kommen zu Wort. In routiniert-nüchterner Abgeklärtheit wird da einhellig erklärt, Jugendliche könnten sehr wohl zwischen realer und fiktionaler Gewalt unterscheiden. Daher sei nicht mit direkten Auswirkungen zu rechnen, zumal ja eine Alterslimite von 16 Jahren gelte.

Immerhin wird empfohlen, Kinder mit «Squid Game» nicht allein zu lassen. Am besten setze sich die Familie vor den Bildschirm, um dann das Filmgeschehen im Gespräch zu reflektieren. Dass solche Ratschläge einfach nur weltfremd sind, zeigen Medienberichte über Vorfälle, wie sie auch an hiesigen Schulen beobachtet wurden. Wie zuvor schon in Dietikon und in der Romandie sah sich die Schule Lenzburg kürzlich veranlasst, Gewaltspielen auf dem Pausenplatz, die eindeutig Bezug nahmen auf «Squid Game», durch eine an die Eltern adressierte Informationskampagne gegenzusteuern.

Was vom schulischen Bodenpersonal vorauszusehen war, ist eingetreten: Die medienpädagogischen Empfehlungen von Fachleuten erreichen bestenfalls jene Minderheit von Familien, die schon sensibilisiert sind und sich selber zu helfen wissen. Dagegen sind Familien, die im Jargon gerne als bildungsfern bezeichnet werden, mithin Menschen, die die Lebensbewältigung ganz generell als grosse Herausforderung erleben, für abgehobene Erziehungsratschläge kaum empfänglich. Die Konsequenzen werden an unseren Schulen sichtbar in Form von Alltagsgewalt und Verhaltensstörungen aller Schattierungen. Wer damit klarkommen muss, sind Menschen in Erziehungsberufen wie Lehrerinnen und Lehrer. Sie sind es, die die Kollateralschäden der digital verstärkten Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Grenzen halten müssen, z.B. wenn Kinder, die auf dem Pausenplatz «Squid Game» spielen, aufeinander losgehen.

Lehrerinnen und Lehrer haben Besseres verdient als wohlfeile Expertenmeinungen, die, wie im vorliegenden Fall, den Zynismus eines Geschäftsmodells verwedeln. Klar: Menschen in Erziehungsberufen müssen in der Lebensrealität bestehen können. Den richtigen Umgang mit Phänomenen wie «Squid Game» zu finden, gehört nun mal zu ihrer Professionalität. Dass sie dazu in der Lage sind, zeigen die Beispiele Lenzburg und Dietikon. Dafür benötigen sie Rückenstärkung durch geerdete Experten, die sich nicht zu schade sind, ihr Wissen in ermutigenden Statements zur Alltagsrealität auszudrücken, wenn sie sich in der Öffentlichkeit äussern. Auch engagierte Berufsleute, die – bildlich gesprochen – täglich in harter Knochenarbeit medialen Müll entsorgen, dürfen nicht alleingelassen werden.