
Quarantäneregel: Kantonsärztin zeigte Hunderte zu Unrecht an – auch Babys waren darunter
Wer aus einem Coronarisikogebiet in die Schweiz einreist, muss sich innert zwei Tagen beim Kantonsärztlichen Dienst melden und danach zehn Tage in Quarantäne. Aktuell stehen noch vier Länder auf der Liste des Bundes: Andorra, Armenien, Belgien, Tschechien. In den Sommermonaten war die Liste um ein Vielfaches länger.
Im Aargau hat Kantonsärztin Yvonne Hummel potenzielle Quarantänesünder konsequent verfolgt. Die Mitarbeitenden des Contact-Tracing-Centers (Conti) glichen die Listen der Fluggäste mit jenen Personen ab, die sich gemeldet hatten. Wer sich nicht fristgerecht gemeldet hat, obwohl er auf der Liste stand, wurde verzeigt.
Bis Mitte November seien bei der Staatsanwaltschaft 570 Verzeigungen des Gesundheitsdepartements eingegangen, sagt Sprecherin Fiona Strebel. 309 davon sind abgearbeitet, 37 sind rechtskräftig. Einen Strafbefehl hat aber nur ein Bruchteil der verzeigten Personen erhalten. In 256 von 309 Fällen hat die Staatsanwaltschaft eine Nichtanhandnahmeverfügung verschickt. In mehr als 82 Prozent der Fälle war der angezeigte Straftatbestand also nicht erfüllt. Oder anders gesagt: Es wurden deutlich mehr Personen angezeigt, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen, als solche, die tatsächlich gegen die Meldepflicht verstossen haben.
Einige wurden trotz Meldung angezeigt
Aufschluss über die Gründe geben die rechtskräftigen Nichtanhandnahmeverfügungen, welche die AZ einsehen konnte. Zwei betreffen Personen mit Jahrgang 2020 und 2019. Babys also, die gar nicht strafmündig sind. Eine betrifft eine Person mit Wohnsitz im Kanton Zürich, was nicht in die Zuständigkeit der Aargauer Staatsanwaltschaft fällt.
Am Tag der Einreise beim Conti-Team gemeldet
In drei Fällen hat das Gesundheitsdepartement Personen angezeigt, die sich nach der Einreise vorschriftsgemäss gemeldet haben. Eine Person gab gegenüber der Polizei zu Protokoll, sie habe sich beim Kanton gemeldet und sei zweimal vom Kanton kontaktiert worden. Ein Blick in die Kontaktliste ihres Mobiltelefons bestätigte diese Angaben.
Eine andere Person hat sich am Tag der Einreise per E-Mail beim Conti-Team gemeldet. Die dritte Person ist berufshalber in die Schweiz eingereist und hat sich vom Kantonsärztlichen Dienst von der Quarantänepflicht befreien lassen. Ein E-Mail belegt das.
Daten existierten in drei Fällen nicht
Drei Personen haben sich nach der Einreise anstatt beim Kanton bei ihrer Wohngemeinde oder dem Bundesamt für Gesundheit gemeldet. Für die Staatsanwaltschaft zeigt dies, dass sie die Meldepflicht ernstgenommen haben, obwohl sie sich bei der falschen Stelle gemeldet haben. Es wurde kein Verfahren eröffnet.
Die meisten Nichtanhandnahmeverfügungen hat die Staatsanwaltschaft an Personen verschickt, die nur auf Durchreise in einem Risikogebiet waren. Sie reisten aus Albanien, Uruguay, Sansibar, Kamerun oder Kuba in die Schweiz und hatten auf dieser Reise einen Transitaufenthalt von weniger als 24 Stunden, beispielsweise in Madrid, Wien oder Katar.
In drei weiteren Fällen ergaben die Ermittlungen, dass die genannten Daten nicht existieren beziehungsweise falsch sind. Die angezeigten Personen konnten nicht eruiert werden.
Hummel hält Entscheid nach wie vor für richtig
Kantonsärztin Yvonne Hummel sagt auf Anfrage: «Den Entscheid, Verletzungen der Meldepflicht zu verzeigen, halten wir nach wie vor für richtig.» Mit Nichtanhandnahmeverfügungen sei aufgrund der Ausgangslage aber zu rechnen gewesen. Mitarbeitende des Conti hätten zwar erste Abklärungen durchgeführt, sagt Hummel. «Detaillierte Ermittlungen zu den Einzelfällen waren aufgrund rechtlicher Vorgaben aber erst im Rahmen des Strafverfahrens möglich.» Aufgrund der zur Verfügung stehenden Daten des Bundesamtes für Gesundheit und der Flughafenpolizei Zürich habe zum Beispiel nicht immer erfasst werden können, ob es sich nur um einen Transitflug gehandelt habe.
Keine neuen Strafanzeigen seit Mitte Oktober
Einzelfälle könnten ohne weitere Angaben nicht rekonstruiert werden, so Hummel. Sie betont aber, man habe grundsätzlich darauf verzichtet, Minderjährige anzuzeigen. Dass es trotzdem Fälle gab, könne an fehlerhaften Daten oder einem menschlichen Irrtum liegen.
Bei der Staatsanwaltschaft treffen seit Mitte Oktober keine neuen Strafanzeigen aus dem Gesundheitsdepartement mehr ein. Aus Vernunft seien die Verzeigungen mit der zweiten Welle eingestellt worden, nachdem die schweizerische Infektionsrate diejenige der Einreiseländer überstiegen habe, sagt die Kantonsärztin.
Erster Prozess findet nächste Woche statt
Bisher wurden sechs Personen wegen Verstössen gegen die Meldepflicht rechtskräftig verurteilt. Sie müssen eine Busse von 500 Franken bezahlen und eine Strafbefehlsgebühr in gleicher Höhe. Alle sechs sind mit dem Flugzeug aus einem Risikogebiet in die Schweiz eingereist und haben sich nicht beim Kanton gemeldet. Fünf weitere Beschuldigte haben den Strafbefehl angefochten. Ein Fall wird nächste Woche vor dem Bezirksgericht Zurzach verhandelt.