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Auf Besuch bei den Autoposern: «Das Auto dient mehr als Verbindungsmittel, das Fahren ist Nebensache»

«Rücksichtslos und unsinnig.»

«Unterschriften gegen Autoposer.»

«Autoposer stehen auf dem Aargauer Sorgenbarometer weit oben.»

Diese und ähnliche Schlagzeilen waren im letzten Jahr vermehrt zu lesen. Das Thema polarisiert: Die «Poser» – also Menschen, die in aufgemotzten Autos zu schnell und zu laut fahren – erhitzen die Gemüter.

Der Ärger von lärmgeplagten Anwohnern und Gemeinden hat sich in der Coronakrise beziehungsweise in Zeiten des Lockdowns noch verstärkt. Das zeigen zahlreiche Petitionen, die gegen «Autoposer» auf der Plattform petitio.ch eingereicht wurden. In drei Monaten kamen über alle Petitionen total 1300 Unterschriften gegen die Lärmsünder zu Stande.

Mattia Balbi, 24-jährig aus Dottikon, bezeichnet sich selbst als Autoenthusiast. Irgendwann hatte er genug von den negativen Schlagzeilen. Er wurde aktiv und meldete sich bei der AZ – um zu zeigen, dass hinter der Schlagzeile mehr steckt als hirnlose Gasgeber.

Balbi ist Präsident des Abarth Club Tricolore, mittlerweile zählt der Verein über 80 Mitglieder aus der ganzen Schweiz. Was sie vereint: die Liebe zum italienischen Kultauto Abarth, das mittlerweile zum Konzern Fiat Chrysler gehört. Die Automarke wurde 1949 gegründet und ist bekannt für ihre leistungsstarken Modelle – das Logo der Marke: ein Skorpion.

Ein kleines Auto mit viel Power: Der Abarth 500 in der Vereinsgarage in Niedergösgen.

«Die Menschen haben schnell ein negatives Bild von uns»

Die Garage, in die uns Abarth-Fan Balbi lädt, befindet sich am Rande von Niedergösgen direkt an der Aare. Im Hintergrund dampft der Kühlturm des Kernkraftwerks. Vor einem Jahr hat sich der Verein dort sein Klubhaus eingerichtet. «Bitte achtet nicht auf das Chaos, es ist noch nicht fertig umgebaut hier», begrüsst uns Balbi, der einen schwarzen Hoodie mit dem Tricolore-Symbol trägt. Mitgebracht hat er seine Freundin Emanuela Nicastro und seinen Kollegen Jeremy Diquattro. Alle drei gehören zu den zehn Mitinhabern des Klubhauses.

Die Garage ist zweistöckig und tipptopp aufgeräumt. Eine Italien-Flagge und zahlreiche Abarth-Plakate zieren die Wände. In der Mitte steht ein grauer Abarth 500 – das Herz von Mattia Balbi. An der Wand darüber hängt – wie eine Jagdtrophäe – die Frontschürze eines weissen Fiats. «Wir haben hier alles selbst in unserer Freizeit aufgebaut», erklärt Balbi mit Stolz, gekostet hat sie das knapp 20’000 Franken.

Der Abarth Club Tricolore ist der grösste Abarth-Verein in der Schweiz und wurde 2019 offiziell von Fiat anerkannt. Vorteile bringt ihnen das nicht ein: «Nicht mal eine Briefmarke für die Vereinspost schenkt mir Fiat», sagt Balbi. Es geht um die Anerkennung.

Am Anfang tritt uns Balbi mit Skepsis entgegen. Er hat das Gefühl, die Medien seien geprägt von Vorurteilen gegenüber Menschen mit getunten Autos. Balbi sagt:

«Man wird schnell in einen Topf geworfen. Wenn mich Leute mit meinem auffälligen Wagen sehen, dann haben sie schon ein negatives Bild von mir, obwohl ich nichts gemacht habe.»

Auf die Frage, was denn eigentlich Autoposer seien, antwortet er mit leichter Anspannung und einer Gegenfrage: «Das müsst ihr – die Medien – uns sagen.» Man merkt, dass die Thematik auch bei ihm Emotionen weckt.

«Mitten in der Nacht Lärm zu machen, ist ein No-Go»

Die drei lehnen den Begriff «Poser» für sich nicht ab, distanzieren sich aber davon. «Ich finde es selber ein No-Go, wenn jemand in einer 30er-Zone oder mitten in der Nacht Lärm machen muss. Das entspricht nicht dem gesunden Menschenverstand», sagt Balbi. Sein Abarth 500 ist ein Sondermodell zum 70-jährigen Jubiläum von Abarth. Gekostet hat es ihn 40’000 Franken, hinzu kamen knapp 3000 Franken, um dem Auto den letzten Schliff zu geben.

Die drei Freunde sprechen sich für eine Dezibelbeschränkung in Wohngebieten aus. Doch es könne schon einmal vorkommen, dass man den Motor etwas aufheulen lässt, um Aufmerksamkeit zu bekommen:

Mattia Balbi mit seiner grossen Liebe: dem Abarth 500.

«Es reizt schon ab und zu Gas zu geben, um zu zeigen, was man hat. Schliesslich hat man auch viel Arbeit und Zeit ins Auto gesteckt.»

Dass so viel gegen Autoposer geschossen wird, können sie nicht nachvollziehen. Auch den Aufwand, den die Polizei betreibt, um gegen die Lärmsünder vorzugehen, finden sie übertrieben. «Die Behörden investieren ihre ganze Energie in die Autoszene. Im Aargau wurde sogar eine eigene Abteilung dafür geschaffen.»

Mit der «Abteilung» ist die Taskforce Autoposer der Mobilen Polizei gemeint. Diese wurde von der Kantonspolizei Aargau letztes Jahr ins Leben gerufen, weil die Thematik besonders im Lockdown im Fokus stand. Die Taskforce besteht aus Spezialisten, die sich ausschliesslich mit Autoposern beschäftigen. Die Polizei führt neben spontanen Kontrollen mehrere Schwerpunktaktionen pro Woche durch, um gegen Autoposer vorzugehen.

«Das ist verschwendetes Geld, das an einem anderen Ort besser eingesetzt wäre», findet Jeremy Diquattro, der 21-jährige Kollege von Mattia Balbi. Zum Beispiel, um gegen Pädophile im Internet vorzugehen. Zum Thema hat der Abarth-Fan vor kurzem eine Dokumentation gesehen.

Der Begriff Autoposer könne auch positiv besetzt werden, finden die drei Freunde: «Es ist mehr als ein Hobby, es ist eine Leidenschaft. Jeden Monat organisieren wir eine Ausfahrt.» Oft fahren sie Passstrassen, ab und zu geht es nach Mailand oder Bergamo, und häufig einfach in ein Restaurant in der Region, erzählt Balbi. Denn im Fokus stehe das gemeinsame Erlebnis und der Zusammenhalt:

«Wir sind eine Familie, jeder ist für den anderen da. Das Auto dient mehr als Verbindungsmittel, das Fahren ist sogar Nebensache.»

Das Fahrzeug schaffe aber nicht nur Gemeinsamkeit, sondern hebe auch ab: «Jeder gestaltet seinen Abarth nach seinen Vorlieben, das Auto spiegelt den eigenen Charakter», erklärt Emanuela Nicastro, die mit Balbi in Dottikon lebt. Ihre Frontscheibe ziert der Spruch «my middlefinger salutes you». Für die Anwohner, die sich über den Lärm beklagen, hat sie nur bedingt Verständnis:

«Ich bin an einer Hauptstrasse aufgewachsen. Wenn man müde ist, dann schläft man.»

Mit viel Liebe zum Detail haben die Abarth-Fans ihr Klubhaus eingerichtet.

Doch Bewohner, die an typischen Poser-Ecken, wie etwa bei der Socar-Tankstelle in Zürich-Altstetten leben, tun ihr schon leid. Damit die Tricolore-Mitglieder nicht an einer Tankstelle oder der Raststätte in Würenlos rumhängen müssen, haben sie sich die Garage in Niedergösgen gemietet: «Hier stören wir niemanden.»

Als Balbi uns auf eine kurze Spritztour mitnimmt, demonstriert er die Motorengeräusche: «Alles legal», betont er. Auf dem Lenkrad hat er eine Abdeckung mit der Tricolore-Flagge montiert, und als er aussteigt, zeigt sich, wie weit seine Leidenschaft für den Club geht. Er hebt das Hosenbein seiner gebleichten Jeans, zum Vorschein kommt ein schwarzes Tattoo: ACT – Abarth Club Tricolore steht auf seiner Wade.