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Ein Nazi-Archäologe erforschte Grabhügel im Aargau – und fälschte die Ergebnisse 

«Haben die noch alle Tassen im Schrank?!», fragte sich Pitsch Schmid, Mitglied der Historischen Vereinigung Seetal, als er vor zwei Jahren hörte, dass die Grabhügel im Zigiholz im Sarmenstorfer Wald wieder aufgeschüttet werden sollten. Bis dahin lagen zwei steinerne Gräber frei, die ihrer Form wegen als Sichel- und Hufeisengrab bekannt waren und besichtigt werden konnten.

Doch Kantonsarchäologe Georg Matter erklärte damals gegenüber der AZ: «Die Ausgräber vor 100 Jahren dachten, die speziellen Formen der Steinpackungen hätten eine besondere Bedeutung. Heute wissen wir, dass sie wohl durch Raubgrabungen entstanden sind. Ursprünglich waren sie ziemlich sicher rund oder allenfalls rechteckig.»

So sah das Zigiholz aus, bevor es 2020 in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt wurde. Im Vordergrund das sogenannte Hufeisengrab.

Nach dem ersten Schock fragte sich Pitsch Schmid: «Haben die vielleicht doch recht, dass sie die Grabhügel wieder aufschütten?» Heute weiss er: «Was im Zigiholz in all den Jahren passiert ist, ist etwas wahnsinnig Brisantes.» Dabei spricht er nicht von der Aufschüttung vor zwei Jahren. Sondern von dem, was hier seit 1927 stattgefunden hat: Mit der Aufschüttung wurden Fehler in der Forschung korrigiert, die ein Nazi-Archäologe – vermutlich bewusst – gemacht hat, um die Deutsch-Deutsche Ideologie voranzubringen.

In einer Diskussion der Reihe «Grabenstorf» nahmen sich die beiden Experten am Sonntag dem Thema nochmal an. Sie diskutierten zusammen mit Moderator und AZ-Autor Jörg Meier, der das Thema vor Jahren für die Zeitung aufgearbeitet hat. Sie stellten sich die Frage, wie es zu all dem kommen konnte.

Reinerth wollte die Überlegenheit der Urgermanen zeigen

Es sei der Seenger Lehrer und spätere erste Aargauer Kantonsarchäologe Reinhold Bosch gewesen, der Kontakt zum 27-jährigen deutschen Stararchäologen Hans Reinerth aufgenommen habe. «Reinerth war tatsächlich ein sehr guter Archäologe, der verschiedene Neuerungen in die Forschung einbrachte», muss Georg Matter, der mittlerweile zum Leiter Abteilung Kultur beim Kanton aufgestiegen ist, zugeben.

Hans Reinerth war der umstrittene Nazi-Archäologe, der das Sarmenstorfer Zigiholz umgegraben hat.

Für Sarmenstorf war es eine Ehre, dass dieser berühmte Archäologe 1927 im Zigiholz die Grabungen leitete. Matter fasst aber auch zusammen:

«Reinerth vertrat die sogenannte Deutsch-Deutsche Ideologie.»

Diese ging davon aus, dass die Urgermanen, die aus Norddeutschland stammten, die Vorfahren der Deutschen seien. Er habe aufzeigen wollen, dass diese Urgermanen der Steinzeit eine überlegene Kultur entwickelt hätten, die ausgestrahlt habe bis nach Osteuropa, über die Schweiz bis nach Italien und durch den Balkan bis Griechenland. Er war sogar überzeugt davon, das rechteckige urgermanische Haus habe als Vorstufe für den Bau der griechischen und römischen Tempel gedient.

Matter erklärt weiter: «Um nachzuweisen, dass die 21 Grabhügel im Zigiholz germanischer Herkunft sind, brauchte Reinerth zwei Dinge: eine Datierung ins Neolithikum, also die Jungsteinzeit, plus eine Konstruktion, die mit einem urgermanischen Haus übereinstimmte.» Beides fand er beziehungsweise fantasierte er sich zusammen, wie man heute weiss.

Reinerth setzte sich seine eigene Wahrheit zusammen

«Im Aussenbereich der Grabhügel fand Reinerth zwei Tonscherben aus dem Neolithikum. Aus diesen schloss er, dass die Hügel in der Jungsteinzeit entstanden sein müssen», hält Matter fest. Dabei gehe man heute davon aus, dass das Erdreich für die Hügel von einer älteren Siedlungsstätte wiederverwendet wurden, ohne dass die Erbauer merkten, dass die viel älteren Scherben mit verbaut wurden. Doch Reinerth sah darin den Beweis seiner Theorie.

«Ausserdem fand er Pfostenlöcher, Erdverfärbungen, Aschereste, Steinpackungen und Steinkreise, wie wir sie von vielen anderen bronzezeitlichen Grabstätten kennen», so der ehemalige Kantonsarchäologe. Aus den Pfostenlöchern habe Reinerth jedoch herausgelesen, dass sich hier ein sogenanntes germanisches Totenhaus befunden haben müsse. Dieses baute er sofort nach, damit es von Generationen von Schulklassen besucht werden konnte.

So sah das Totenhaus aus, das der Nazi-Archäologe Hans Reinerth im Zigiholz errichten liess, von dem man heute weiss, dass es reinen Propagandazwecken gedient hat und historisch gar nicht belegbar ist.

Matter macht kopfschüttelnd deutlich, was er von diesen Interpretationen hält. Heute ist man sich sicher, dass die Grabhügel aus der Bronzezeit (2200 bis 800 v. Chr.) und nicht aus der Jungsteinzeit (5500 bis 2200 v. Chr.) stammen. Doch, wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass ein Mann alleine mit solch – aus heutiger Sicht – abstrusen Erklärungen alle hinters Licht führen konnte?

Matter erklärt: «Damals, 1927, gehörte das völkische Gedankengut zum Mainstream in Europa. Viele Nationen rangen um ihre Identität, sie alle arbeiteten damit. Erst später, als die Nazis die Theorie derart missbraucht hatten, wurde es als falsch und verwerflich aufgedeckt.»

Reinerth baute das Totenhaus 1970 nochmal auf

Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor Hans Reinerth seine Anerkennung. In diesem Zusammenhang sei es noch unfassbarer, wirft Moderator Meier ein, dass man Reinerth 1970 das mittlerweile verrottete Totenhaus wiedererbauen liess.

Die bronzezeitlichen Grabhügel im Zigiholz in Sarmenstorf: Der Nazi-Archäologe Hans Reinerth leitete 1927 die Ausgrabungen – hier wurden sie von einer historischen Gesellschaft besucht.

Aus den über 50 Zuhörenden meldet sich Max Zurbuchen. Er war damals ein Mitarbeiter Reinerths und erinnert sich gut: «Das Gstürm ging los. Reinerth schrieb dem damaligen Präsidenten der Historischen Vereinigung Seetal, Karl Baur, was für Holz dieser für das neue Totenhaus bestellen sollte. Da Baur dem Ganzen aber sehr kritisch gegenüberstand, brachte Reinerth das Holz am Ende selber aus Deutschland mit.» Zurbuchen war mit dabei gewesen und konnte den Interessierten im Pfarreitreff noch viele Anekdoten davon erzählen.

Wie konnte es sein, dass 1970 die Kantonsarchäologie nicht eingriff, um den ehemaligen Nazi, als der Reinerth mittlerweile bekannt war, am Wiederaufbau seines erfundenen Totenhauses zu hindern? Matter mutmasst: «Der damalige Kantonsarchäologe war gerade verstorben, sein Nachfolger noch nicht im Amt. Ich gehe davon aus, dass es deshalb passieren konnte.» Erneut meldet sich Zurbuchen:

«Selbst wenn die Kantonsarchäologie dagegen gewesen wäre, Reinerth hätte es sowieso gemacht.»

Es dauerte bis 1997, bis die Kantonsarchäologie eingriff, sich um das Zigiholz kümmerte, die Nekropole ganz von der fatalen Ideologie befreite und das Areal neu gestaltete. Doch noch immer blieb einiges falsch dargestellt, was nun im vergangenen Jahr gänzlich ausgemerzt wurde.

Heute führen Wege um die wiederaufgeschütteten bronzezeitlichen Grabhügel herum. Einzig die Bäume soll es damals sicher nicht gegeben haben, denn eine solche Nekropole lag extra auf einem Hügel, damit sie von weitem sichtbar war.

Heute soll das nicht mehr vorkommen können

Jörg Meier ist es wichtig, zu fragen: «Wie ist das heute mit der Dichtung und der Wahrheit? Wie kann eine solche ideologische Interpretation verhindert werden?» Matter erklärt: «Wir sind alle Kinder unserer Zeit. Heute werden historische Funde beispielsweise vermehrt auf die Klima- und Umweltthematik oder die Rolle der Frauen hin untersucht. Das hat immer mit der jeweiligen Zeit zu tun.»

Er betont jedoch: «Von den damaligen Ausgrabungen sind nur noch Reinerths Publikationen, aber keine Originaldokumente mehr vorhanden. Heute versuchen wir, so viele Fakten wie möglich zu generieren und diese allgemein zugänglich zu machen, sodass solcher Missbrauch nicht mehr stattfinden kann.»