Selbstversuch: Unsere Redaktorin Katrin Petkovic war als Nez-Rouge-Fahrerin unterwegs

Es ist Mittwochabend, einer der vier im Dezember. Dichter Nebel breitet sich im ganzen Kanton Aargau aus. Laut Wettervorhersage bleiben die Strassen trocken.

Das freut vor allem die zwölf Freiwilligen, die sich zwischen 22 und 2 Uhr für Nez Rouge Aargau als Fahrer zur Verfügung stellen – darunter mich, die sich zum ersten Mal überhaupt bei Nez Rouge engagiert. Zum Glück ist mein Rupperswiler Teamkollege, Kevin Rapolani, ein alter Fuchs. Fünfmal fuhr er bereits für Nez Rouge, meistens mit seinem Freund. Da sich dieser jedoch erkältet hat, erhalte ich die Ehre. Für Kevin Rapolani, der heute seinen 28. Geburtstag feiert, ist es nicht das einzige ehrenamtliche Engagement. Er ist aktives Mitglied der Feuerwehr sowie des Turnvereins. Ein Ehrenamtlicher also, wie er im Bilderbuch steht.

Nach der Einführung in der Sporthalle Lenzburg erhalten alle pauschal zehn Franken für ihren Einsatz. Fünf Franken jedes Beitrags, den die Fahrer jeweils von den Kunden erhalten, gehen an Nez Rouge Schweiz zur Finanzierung der Dienstleistungen. Der Restbetrag geht an die regionalen Sektionen für die Finanzierung der Aktion in den Regionen (Infrastruktur, Kraftstoff, Werbematerial, Mahlzeiten). Sofern möglich geben die Nez-Rouge- Sektionen einen Teil der Spenden an eine oder mehrere soziale Einrichtungen ohne Gewinnzwecke weiter.

Kevin Rapolani bezweifelt jedoch, dass an diesem Mittwochabend viele das Angebot von Nez Rouge nutzen werden. Ich stelle mich also auf zahlreiche Gespräche mit den anderen Freiwilligen und auf lange Bildschirmzeit auf meinem Smartphone ein. Doch es kommt ganz anders.

Punkt 22 Uhr macht sich bei praktisch allen sechs Teams eine Kurzmitteilung mit dem ersten Auftrag bemerkbar. Unsere erste Destination: das Schlossrestaurant in Habsburg. Knapp 20 Minuten entfernt. Während ich den Auftrag mittels Link bestätige, informiert Kevin Rapolani den Kunden über unsere ungefähre Ankunftszeit.

Bis kurz nach zwei Uhr werden es vier Gruppen sein, die wir sicher nach Hause gebracht haben. Gemeinsam werden sie rund 300 Franken an Nez Rouge gespendet haben. Wir wechseln uns beim Fahren mit den Kundenautos ab. Wer wartet an der Destination? In welchem Zustand ist der Kunde? Welches Auto werde ich fahren? Und sind Nez-Rouge-Fahrer überdurchschnittlich gute Autofahrer, weil sie sich das Fahren jedes Autos zutrauen? «Das könnte gut sein. Auch das Fahren im Dunkeln ist nicht jedermanns Sache», so Kevin Rapolani.

Bei meiner allerersten Fahrt bringe ich ein Paar und deren Freund nach Hause, die sich in einer Bar in den Tiefen des Aargaus ein paar Drinks genehmigt haben. Die Hinfahrt dauert 40 Minuten und die Heimfahrt weitere 30 Minuten. Das Paar ist Stammkunde bei Nez Rouge und hat in diesem Jahr bereits mehrere Male angerufen. Also sitze ich am Steuer eines schicken schwarzen Mercedes mit drei mir wildfremden Menschen. Ich versuche Small Talk mit den leicht alkoholisierten Personen zu betreiben, bis ich mich an die vielen Male zurückerinnere, als ich mir von so manchem Taxifahrer gewünscht hätte, er möge mich einfach nur nach Hause fahren. Also bleibe ich fortan still und lasse mich in die richtige Richtung lotsen, während im Radio «Old Town Road» von Lil Nas X läuft. «I’m gonna ride ’til I can’t no more» – wie passend.

Es ist ein Uhr morgens. Mein Teamkollege fährt den dritten Auftrag und ich folge ihm. Hunger macht sich bemerkbar. Auch beim vierten und letzten Auftrag füllen die Alkoholausdünstungen des Kunden das Auto innert wenigen Momenten komplett aus. Doch es wird ein versöhnlicher Abschluss. Nach verschiedensten Begegnungen mit Menschen ist es ein herzenslustiger Ehemann, der mir den passenden Abschluss für meine Ersterfahrung gewährt. Er erzählt mir von seinen wunderbaren Kindern und seiner Frau, mit der er 23 Jahre zusammen ist. Er ist glücklich und gibt Phrasen von sich wie «das Leben ist kein Ponyhof» oder «man weiss nie, was man vom Leben erwarten kann». Es sind triviale Aussagen, die in einem chaotischen und fremden Auto, umgeben von Dunkelheit und Nebel mitten in der Nacht, einen neuen Sinn zu erhalten scheinen.

Die Aktion Nez Rouge ist eine von und für die Bürgerinnen und Bürger organisierte nationale Präventionsmassnahme zur Unfallverhütung, die im Jahr 1984 initiiert wurde. Seit 1994 organisiert Nez Rouge Aargau unter einem siebenköpfigen OK jeweils im Dezember die alljährliche Fahrdienst-Aktion. Im letzten Monat des Jahres stehen rund 1300 Freiwillige jeden Abend ab 22 Uhr als Fahrer, Disponent oder Telefonist im Einsatz, um die Kunden und ihr Fahrzeug sicher nach Hause zu bringen. Ziel ist es, die Anzahl derjenigen Verkehrsunfälle zu verringern, die wegen reduziertem Fahrvermögen (Alkohol, Müdigkeit) verursacht werden. Finanziert wird die Aktion von den Trinkgeldern der Fahrgäste und durch Sponsoren. Mit 2944 Fahrten im Rekordjahr 2018 ist Nez Rouge Aargau die grösste Sektion in der Schweiz.