
Sexarbeiterinnen werden im Aargau alleine gelassen: «Die Covid-Krise legt eine riesige Lücke offen»
Die Präsidenten von Wirtschafts- und Gastroverbänden haben dafür gesorgt, dass sie gehört wurden, nachdem der Regierungsrat beschlossen hatte, wegen der Coronapandemie Restaurants und gewisse Läden erneut zu schliessen.
Erotikbetriebe im Aargau sind von den Massnahmen genauso betroffen. Auch sie mussten im Frühling schliessen und sind seit dem 20. Dezember und noch bis Ende Februar zu.
Der Unterschied: Es gibt kaum jemand, der hinsteht und erzählt, was das heisst oder gar Forderungen stellt. Dabei trifft die Coronakrise die Erotikbranche – und vor allem die Sexarbeitenden – hart
Cynthia Zurkirchen ist Sozialarbeiterin und Sexualpädagogin. Sie arbeitet bei Sexuelle Gesundheit Aargau (Seges). Seit dem ersten Lockdown im Frühling führt sie viele Gespräche mit Sexarbeiterinnen, die bei der Fachstelle Hilfe suchen. Sei es, weil sie arbeitsrechtliche Fragen haben oder weil ihnen selbst das Geld für Essen fehlt.
Cynthia Zurkirchen und ihre Kolleginnen und Kollegen bei Seges haben viel versucht und einiges an Unterstützung geleistet.
«Aber manchmal blieb uns nichts anderes übrig, als die Hilfesuchenden an andere Organisationen zu triagieren.»
Das Problem: Seges hat zwar einen Leistungsauftrag des Kantons. Aber dieser umfasst einzig ein sehr niederschwelliges Angebot im Bereich der Prävention. Entsprechend knapp sind die personellen Ressourcen bei der Fachstelle. Die Beratungen beschränken sich auf Themen wie Verhütung oder sexuell übertragbare Krankheiten.
Im Aargau findet Prostitution im Versteckten statt
Diese Lücke sei einerseits politisch gewollt, andererseits auch historisch gewachsen. In Kantonen, wo es Strassenprostitution gebe, seien die Angebote für die Betroffenen meistens breiter aufgestellt. «Ist Prostitution sichtbar, gibt es Menschen, die sich daran stören. Der Druck auf die Politik wächst, etwas dagegen zu unternehmen oder eine Anlaufstelle für Menschen, die in der Sexarbeit tätig sind, zu schaffen.»
Im Aargau hingegen gebe es keine sichtbare Prostitution und deshalb keine Dringlichkeit. Ein Trugschluss, sagt Zurkirchen:
«Die Dringlichkeit ist durchaus vorhanden, was uns nun durch die Covid-Krise sehr deutlich vor Augen geführt wird.»
Menschen, die in der Sexarbeit im Aargau tätig sind, hätten sich Unterstützung bei ausserkantonalen Angeboten und Beratungsstellen holen oder viel Geld für einen Anwalt bezahlen müssen.
«Gschäbig», dass der Aargau nichts macht
Dass die Coronapandemie eine Angebotslücke offenlegt, spürt nicht nur Cynthia Zurkirchen von der Fachstelle. «Die Frauen bräuchten eine Anlaufstelle und kantonale Soforthilfe», sagt auch die Besitzerin einer Kontakt-Bar im Aargau mit 70 bis 80 Frauen. Ihren richtigen Namen will sie in der Zeitung nicht lesen, wir nennen sie deshalb Karin. Karin findet es «gschäbig», dass der Aargau nichts macht.
Sie erzählt, die meisten Frauen seien, als der Betrieb Ende Dezember schliessen musste, nach Hause gereist. Nach Rumänien oder nach Ungarn. Ein paar wenige seien geblieben. Karin sagt:
«Ich lasse sie praktisch gratis in den Zimmern wohnen. Ich kann sie ja nicht einfach die Heizung ausschalten und sie auf die Strasse stellen.»
Aber helfen mit den Behörden könne sie ihnen auch nicht.
Kurzarbeit konnte sie nur für das Barpersonal beantragen
Für ihren Betrieb hat Karin beim Kanton ein Gesuch für Fixkostenentschädigung eingereicht. Für das Barpersonal, das angestellt ist, hat sie Kurzarbeit beantragt. «Aber für die Frauen geht das nicht», sagt Karin.
Sie lebten nun von ihrem Ersparten oder bettelten ihre Stammgäste an. Sie habe auch viele Anfragen von Frauen, die sich erkundigten, wann sie wieder kommen könnten, um zu arbeiten. «Sie brauchen das Geld», sagt Karin. In den Herkunftsländern der Frauen lebt vom Verdienst oft eine ganze Familie. Wegen der Pandemie fällt diese Einnahmequelle weg.
Kontakt-Bar-Besitzerin kritisiert kantonalen Flickenteppich
Störend findet Karin, dass je nach Kanton andere Regeln gelten. In Bern zum Beispiel sind die Erotikbetriebe geöffnet. Sie sagt:
«Ein Mitbewerber mit drei Clubs in der Schweiz hat jetzt einfach alle Frauen nach Bern geholt und macht dort jetzt das Big Business.»
In Aarau wirbt aktuell ein Plakat für einen Sexclub im Kanton Schwyz. «Und unsere Existenz im Aargau geht den Bach runter», sagt Karin. Das mache sie wütend.
Die Polizei geht rigoros gegen Frauen vor, die gegen das Verbot verstossen
An das Verbot halten sich im Aargau nicht alle. Karin erzählt von Frauen, die online Inserate schalteten. «Die Polizei im Aargau geht aber rigoros dagegen vor», sagt Karin. Die Polizisten hätten sich gezielt auf die Inserate gemeldet und die Frauen darauf hingewiesen, dass es verboten sei. Teilweise seien sie vorbeigekommen und hätten die Frauen verwarnt.
Das bestätigt Bernhard Graser, Mediensprecher der Kantonspolizei, auf Anfrage. Aufgrund von Meldungen habe die Polizei vereinzelte Kontrollen durchgeführt. Dabei seien «einige wenige Verzeigungen» ausgesprochen worden. Eine genaue Zahl kann Graser nicht nennen.
Die Polizei habe aufgrund verschiedener Anfragen aus der Branche auch auf eine Unsicherheit über die geltenden Massnahmen schliessen müssen. «Daher nahm die bei uns zuständige Fachstelle aktiv Kontakt mit Inserentinnen auf Sexportalen auf, um sie auf das Arbeitsverbot hinzuweisen.»
Verdeckter Ermittler buchte eine erotische Massage
Bereits während der ersten Welle im Frühling setzte die Kantonspolizei verdeckte Ermittler ein. Das zeigt ein Fall, der letzte Woche vor dem Bezirksgericht Baden verhandelt wurde – und mit einem Freispruch endete.
Eine 55-Jährige hatte Anfang April einem verdeckten Ermittler eine erotische Massage angeboten. Sie flog auf und kassierte einen Strafbefehl. Der Beschuldigten war bewusst, dass sie wegen des damals geltenden Verbots ihre Dienstleistung nicht hätte anbieten dürfen.
Trotzdem tat sie es. Vor Gericht sprach sie von einer finanziellen Notsituation:
«Ich war teilweise so verzweifelt, dass ich eingewilligt habe.»
Lelia Hunziker, SP-Grossrätin und Geschäftsführerin der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) in Zürich, kritisiert das Vorgehen der Polizei.
Warum macht die Polizei Jagd auf Sexarbeiterinnen?
Sie fragt sich, ob es verhältnismässig und rechtens war, einen verdeckten Ermittler auf die Frau anzusetzen. «Woher dieser Übereifer gegen diese Branche?», fragt Hunziker. Zumal der Polizeikommandant im Frühling mehrmals öffentlich gesagt habe, sein Team sei ausserordentlich belastet.
Für Hunziker macht es den Eindruck als würde die Polizei in einer Krisensituation gezielt gegen Randgruppen vorgehen. Sie fragt sich, ob die Polizei dies bei anderen Branchen auch gemacht habe.
Weiter kritisiert die SP-Grossrätin, dass die Frauen nicht den Schutz bekämen, den sie bräuchten und die Polizei stattdessen Kontrollen zu Ausländerrecht, Aufenthalt und Hygiene gemacht würden. Sie sagt:
«Die Frauen werden vor allem repressiv kontrolliert, geht es jedoch um Prävention, sprich Sicherheit und Arbeitsbedingungen, wird gerne weggeschaut.»
Die SP-Grossrätin kündigt an, sie werde im Grossen Rat eine Interpellation zum Thema einreichen.