Sozialhilfeschulden mit Geld aus der Pensionskasse bezahlen? Regierungsrat will umstrittene Praxis nicht verbieten

Der «Beobachter» und der «Kassensturz» berichteten im vergangenen Herbst von mehreren Aargauer Fällen, bei denen Betroffene frühpensioniert wurden, ihr Geld aus der Pensionskasse ausbezahlt erhielten und damit Sozialhilfeschulden bei ihrer Wohngemeinde bezahlen mussten. Die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht und ein Sozialversicherungsexperte kritisieren das Vorgehen. Dieses sei zweckwidrig, da Pensionskassengelder der Absicherung im Alter dienen.

Sozialdirektor Gallati: «Im Ermessen der Gemeinden»

Es sei im Ermessen der Gemeinderäte, ob sie dieses Vorgehen beibehalten, oder auf die Zurückzahlung von Sozialhilfe durch Altersguthaben verzichten, sagte Sozialdirektor Jean-Pierre Gallati im Interview mit «Kassensturz». Das geschehe gemäss kantonaler Sozialgesetzgebung und sei durch die Rechtssprechung des Verwaltungsgerichts gestützt.

Gemeinden hätten in dieser Frage eine gewisse Autonomie, weshalb das unterschiedlich gehandhabt werde. Die Forderung nach Vereinheitlichung sei berechtigt und werde geprüft. Ob es dazu eine neue Gesetzgebung brauche, sei unklar, sagte Regierungsrat Gallati damals.

Vorstoss im Grossen Rat fordert Verbot der bisherigen Praxis

Darauf reichten mehrere Grossrätinnen und Grossräte von EVP, SP, GLP, Die Mitte und Grüne einen Vorstoss ein. Gemäss der Motion, die von Therese Dietiker (EVP) vertreten wird, sollen Zahlungen aus der Pensionskasse «für die Rückerstattung der Sozialhilfe nicht zur Verfügung stehen». Im Gegensatz zu einem Lottogewinn, einer Schenkung oder einer Erbschaft seien die Freizügigkeitsleistungen aus der Pensionskasse als Altersvorsorge zu definieren.

Dies sei bei der nächsten Anpassung der kantonalen Sozialhilfe- und Präventionsverordnung neu zu regeln, forderten die Motionäre. Laut ihrem Vorstoss solle zudem sichergestellt werden, dass Freizügigkeitsguthaben frühestens zum Zeitpunkt eines möglichen AHV-Vorbezugs zur Bestreitung des aktuellen Lebensunterhaltes herangezogen werden können. Zudem stellte auch die FDP-Fraktion in einem eigenen Vorstoss mehrere Fragen zur umstrittenen Rückforderungspraxis.

Konflikt zwischen Konferenz für Sozialhilfe und Verwaltungsgericht

Der Regierungsrat hält in seiner Antwort fest, ihm sei bekannt, dass Aargauer Gemeinden «die Rückerstattung von geleisteter Sozialhilfe aus Freizügigkeitsleistungen prüfen und teilweise auch einfordern». Das Verwaltungsgericht erachte dieses Geld als frei verfügbares Vermögen, das zu günstigen wirtschaftlichen Verhältnissen führen kann und der Rückerstattungspflicht unterliegt, erläutert die Regierung.

Aus den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) geht hervor, dass Pensionskassengelder für den aktuellen und künftigen Lebensunterhalt zu verwenden sind. Die SKOS leitet daraus ab, dass aus diesen Mitteln grundsätzlich keine Rückerstattung von Sozialhilfe verlangt werden soll. Gemäss dem Verwaltungsgericht lasse sich dies aber nicht direkt aus den SKOS-Richtlinien entnehmen, schreibt die Regierung.

Regierung will Anpassung prüfen – aber zuerst die Gemeinden befragen

Dies könnte sich ändern, denn in den Erläuterungen zu den revidierten SKOS-Richtlinien 2021 steht explizit, dass aus Freizügigkeitsleistungen grundsätzlich keine Rückerstattung von rechtmässig bezogener Sozialhilfe verlangt werden kann. Ob diese neue Regelung im Aargau künftig für alle Gemeinden verbindlich wird, steht allerdings nicht fest. Die Regierung will den Vorstoss aus dem Mitte-Links-Lager nicht als verbindliche Motion, sondern nur als unverbindliches Postulat entgegennehmen

Der Regierungsrat werde «nach einer vorgängigen Konsultation der Gemeinden über die Anwendbarkeit der neuen SKOS-Richtlinien im Aargau entscheiden», heisst es in der Antwort zum Vorstoss. Dabei werde auch explizit die Haltung der Gemeinden zur Verwendung von Pensionskassengeldern für die Rückerstattung der Sozialhilfe eruiert. Die Konsultation der Gemeinden erfolgt im zweiten Quartal dieses Jahres.