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«Ich vermisse die Bereitschaft zum Dialog und den Willen, Visionen zu entwickeln» – Marco Genoni im Abschiedsinterview

Suhr befindet sich aktuell in einer Verschnaufpause: Die Kantonsstrassensanierung ist durch, das Umfahrungsprojekt Veras läuft im Hintergrund, grosse Bauprojekte sind angelaufen, beispielsweise auf dem Henz-Areal oder beim Migros-Verteilzentrum, das einstige Sorgenkind «Frohdörfli» hat sich zum Vorzeigequartier gemausert. Ein guter Moment zum Aufhören?

Ja, der Moment ist wirklich gut. Wir haben als Gesamtgemeinderat in den letzten Jahren vieles erreicht und eingefädelt, das jetzt läuft. Auch bei den Schulbauten.

Da stecken also keine bösen Überraschungen in der Schublade?

Ich mag keine Salamitaktik. Ich habe immer probiert, nicht ein Projekt nach dem andern abzuarbeiten, sondern immer auf die kommenden zehn oder zwanzig Jahre zu blicken. Man darf nicht in Amtszeiten denken, sondern muss langfristig planen. Auch wenn die Zahlen im Finanzplan gewaltig sind und nur geschätzt, so zeigen sie doch offen, worauf die Gemeinde zusteuert, welche Ausgaben auf die Steuerzahler zukommen. Und wenn die Bevölkerung weiss, was auf sie zukommt, gelingt es auch eher, sie für grosse Investitionen zu gewinnen.

Konkret?

2010 habe ich der Gemeinde angekündigt, dass wir in den kommenden 20 Jahren 100 Millionen Franken für Infrastruktur ausgeben müssen, also 5 Millionen pro Jahr. Das ist ziemlich genau so eingetroffen.

Ein undankbarer Job, so etwas anzukündigen.

Vielleicht, aber es war ein Befreiungsschlag. Gerade bei der Schulraumplanung hat das Aufzeigen einer langfristigen Strategie sehr geholfen. Die Bevölkerung hat gemerkt, dass wir uns Gedanken machen, dass wir staffeln, dass wir Prioritäten setzen.

Die Finanzen waren seit Ihrem Amtsantritt 2010 Ihr Ressort. Jetzt präsentieren Sie den Suhrerinnen und Suhrern ein nahezu ausgeglichenes Budget 2022 mit gleichbleibendem Steuerfuss von 112 Prozent. Ein schönes Abschiedsgeschenk.

Ja, das macht mich sehr zufrieden. Ich habe mir oft anhören müssen, ich würde beschönigen, ich sei zu optimistisch. Und es könnte heute auch anders aussehen. Vor einem guten Jahr hatten wir noch Krisensitzungen, weil die Einnahmen bei den Aktiensteuern um über eine Million Franken einbrachen. Dank einer Steuerfusserhöhung und Sparbemühungen verwaltungsintern konnten wir diesen Rückgang abfedern, dazu kommen Mehrerträge aus der Grundstückgewinnsteuer.

Wie entwickeln sich die Steuereinnahmen bei den natürlichen Personen, bei all dem neuen Wohnraum, der in den letzten Jahren geschaffen wurde?

Suhr wird nie im Geld schwimmen, unsere Steuerkraft ist unterdurchschnittlich. Und wir haben Schulden. Aber mit der Bevölkerung wächst auch das Steuersubstrat, es wird weder besser noch schlechter. Und unsere Infrastruktur ist à jour – dank der langfristigen Planung.

Das Wachstum hat über die letzten Jahre immer wieder zu grossen Ängsten geführt; die Anonymität, die Zuzüger ohne Bezug zum Dorf. 2003 kamen Sie als Zuzüger, jetzt gehen Sie als Gemeindepräsident. Wie kam es dazu?

Airolo – Suhr, das liegt doch auf der Hand: Ich habe ein Herz für verkehrstechnische Nadelöhre (lacht). Nein, im Ernst: Wir sind damals eher zufällig in Suhr gelandet, aber uns war wohl hier. Und für mich war rasch klar, dass die Lokalpolitik eine super Gelegenheit ist, um richtig anzukommen. Wer Politik macht, kann gestalten, und das war und ist mir immer eine grosse Freude. Es war nie eine Belastung, ich hatte nie das Gefühl, mich für das Allgemeinwohl zu opfern. Aber ich muss auch sagen: Ohne «Zukunft Suhr» hätte ich das alles nicht erreicht.

Worauf haben Sie als Gemeindepräsident Wert gelegt?

Im Gemeinderat darf man nicht das Gefühl haben, sich selbst verwirklichen zu wollen, man muss das Wohl der Gemeinde ins Zentrum stellen. Ich habe in den letzten vier Jahren viel in das Miteinander im Gemeinderat investiert, zu Beginn haben wir uns wöchentlich getroffen, um eine gute Basis zu schaffen. Man kann unterschiedlicher Meinung sein, aber man muss einander ernst nehmen und sich gegenseitig zuhören. Das ist uns sehr gut gelungen, wir sind ein tolles Team.

Marco Genoni zieht sich nach vier Jahren als Gemeindepräsident zurück. 

Und doch gehen Sie nach vier Jahren, nach nur einer Amtszeit als Gemeindepräsident. Das hat immer einen etwas faden Beigeschmack. Hat der Abstimmungskampf um den Zukunftsraum doch mehr Geschirr zerschlagen als öffentlich bekannt?

Ich habe schon lange vor der Abstimmung zum Zukunftsraum gemerkt, dass das Nebeneinander von Gemeindepräsidium und meiner Tätigkeit als Geschäftsführer kaum länger möglich ist. Die Belastung war enorm. Ich musste mich für das eine oder das andere entscheiden. Und da hat die kräftezehrende Diskussion um den Zukunftsraum sicher auch Einfluss auf meine Entscheidung genommen.

Aber an Ihrem persönlichen Entscheid gegen den Zukunftsraum halten Sie fest? Sie haben lange gezögert.

Ja, auf jeden Fall. Auch wenn ich mit meinem Ansinnen gescheitert bin: Ich wollte mit meinem Abwägen verhindern, dass eine gehässige Diskussion entsteht, geprägt von Identitätsverlust. Mein Wunsch war, dass die Parteien sagen, sie könnten sich beides vorstellen, und ein paar Gründe mehr dafür oder dagegen ausschlaggebend für die Parole sind. Aber es kam anders: Man hat nur noch in eine Richtung argumentiert, nur noch das Schlechte gesehen. Wie Pferde mit Scheuklappen. Mir haben Gelassenheit und Besonnenheit gefehlt, auf beiden Seiten. Auch ein Ja hätte keine Katastrophe für Suhr bedeutet.

Worin sehen Sie denn Ihr Scheitern?

Als der Gemeinderat seinen Entscheid getroffen hatte, haben wir umgehend die Ortsparteien eingeladen, um ihnen unseren Entscheid zu erläutern. Und dann kam der Lockdown, übers Wochenende. Das Treffen wurde abgesagt und die Presseerklärung stand alleine für sich. Ich hätte mich gerne erklärt – ich hätte mich erklären müssen.

Ist der Graben in Suhr so tief, wie vor den Gesamterneuerungswahlen beschworen?

Ich habe früher immer gesagt, Suhr habe eine gute politische Kultur. Das muss ich revidieren. Wir haben einen Schritt rückwärts gemacht. Wir hatten zehn gute Jahre, insbesondere innerhalb des Gemeinderats. Aber im Dorf, insbesondere bei den politischen Parteien, vermisse ich die Bereitschaft zum Dialog und den Willen, Visionen zu entwickeln. Aber dafür müsste man das direkte Gespräch suchen, und nicht über Leserbriefspalten kommunizieren.

Täuscht der Eindruck, dass Sie auch erleichtert sind, Ihr Amt abzugeben?

Nein, es täuscht nicht. Ich spüre, dass ich langsam, aber sicher ungehalten auf die stete Kritik an Kleinigkeiten reagiere. Es würde Suhr guttun, würden wir uns auf das Wesentliche, auf die zukünftigen Herausforderungen konzentrieren.

Sind Sie optimistisch?

Innerhalb des Gemeinderates sehe ich keine Probleme, da bin ich sehr zuversichtlich. Auch dank der guten Verwaltung, da ist eine gute Basis vorhanden für einen Neuanfang.

Schauen wir auf die guten Seiten: Was macht Suhr besser als die Nachbargemeinden?

Wir haben zum Beispiel die Quartierentwicklung und wir waren eine der ersten Gemeinden, die die familienergänzende Kinderbetreuung eingeführt hat. Und das mit überwältigenden Mehrheiten an den Gemeindeversammlungen. Das macht mich unglaublich stolz. Denn es heisst, dass Verwaltung, Gemeinderat und Parteien gute Vorarbeit geleistet haben.

Weitere Beispiele?

Wir haben schon früh das Mittel der Mehrwertabgabe eingeführt. Eine Abgabe, die ein Investor uns bezahlt, wenn er aus seinem Land deutlich mehr herausholen kann. Das wiederum ermöglicht uns, die Umgebung so zu gestalten, dass es den Menschen wohl ist. Ein Aspekt, der während Corona massiv an Bedeutung gewonnen hat. Gleiches gilt auch für gemeindeeigene Areale; wir haben in den letzten vier Jahren viel in eine naturnahe Gestaltung investiert.

Vor dem Suhrer Gemeindehaus wurde 2018 eine Eiche gepflanzt, Marco Genoni schaufelte mit.

Zum Dauerbrenner Verkehr: Bis 2030 soll die Umfahrung gebaut sein, Suhr wird aufatmen können – und muss sich als heute geteiltes Dorf wiederfinden.

Richtig, wenn der Durchgangsverkehr aus dem Dorf verschwindet, muss Suhr wieder zusammenwachsen. Dazu braucht es die flankierenden Massnahmen, an denen wir die letzten Jahre bereits gearbeitet haben. Geplant ist zum Beispiel eine bessere Querung der Bernstrasse beim «Pfister» für den Langsamverkehr, auch aus dem Wynental. Eine entsprechende Vereinbarung mit dem Kanton haben wir im April unterzeichnet; der Kanton wird da viel investieren.

Apropos investieren: Suhr bezahlt einen hohen Preis, um den Verkehr aus dem Wynental zu bewältigen. Doch bei Veras üben sich die Wynentaler Gemeinden in höflicher Zurückhaltung. Ärgert Sie das?

Ich bin tatsächlich etwas ernüchtert, wie die Oberwynentaler Gemeinden auf einen möglichen Verteilschlüssel reagiert haben. Sie fühlen sich nicht verpflichtet, am Projekt teilzunehmen, und zahlen deshalb nicht. So viel zum Thema «Regionale Zusammenarbeit». Es geht notabene um einen Betrag von gesamthaft einer Million Franken.

Die Zusammenarbeit mit Gränichen und Buchs aber bewährt sich?

Ja, es läuft gut, beispielsweise bei der Regionalpolizei Suret, beim Schwimmbad oder bei der Jugendarbeit. Für eine gute Zusammenarbeit braucht es Einsatz und einen regen Austausch. Und man darf es nicht überstrapazieren.

Wie meinen Sie das?

Ich glaube zu spüren, dass die Leute im Moment überschaubare Strukturen suchen. Das war es vermutlich auch, was sie am Zukunftsraum störte. Deshalb werden wir uns beispielsweise auch nicht an der Spitex-Fusion im Grossraum Aarau beteiligen, sondern eine Zusammenarbeit unserer Spitex mit dem Alters- und Pflegezentrum Steinfeld aufgleisen. Ausschlaggebend war: alles aus einer Hand, kurze Wege, überschaubare Strukturen. Und wir haben seitens der Spitex-Mitarbeiterinnen gespürt, dass es für sie so stimmt. In solchen Fragen sehe ich den Gemeinderat nicht als oberste Instanz, sondern als Partner: Wir sitzen und reden so lange, bis wir einen gemeinsamen Nenner gefunden haben.

Wie geht es nun für Sie persönlich weiter? Wird man Sie noch aktiv im Gemeindeleben erleben?

Ich kann mein Interesse für die Gemeinde nicht abschalten, aber ich möchte einen klaren Schnitt machen, mich mit anderem beschäftigen. Aktuell muss ich auf vieles verzichten, was mich interessiert. Weltpolitische Themen; der Umgang mit Ressourcen, Menschenrechte, die Vertreibung von Bauern in Kolumbien beispielsweise. Ich freue mich darauf, mich wieder um solche Themen kümmern zu können.

Was werden Sie vermissen?

Der Abschied von unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird mir enorm schwerfallen. Es sind allesamt so gute Leute.

Marco Genoni als frisch gewählter Gemeindepräsident im September 2017, daneben die Gemeinderäte Thomas Baumann und Oliver Krähenbühl.

Marco Genoni (59, parteilos) wurde 2006 in die Finanzkommission und per 2010 in den Gemeinderat gewählt. 2018 übernahm der das Präsidium. Genoni ist in Airolo aufgewachsen, wo er bereits im Einwohnerrat sass. 2003 kam er, damals noch Dozent an der Berner Fachhochschule in Zollikofen, mit seiner Frau und den beiden Buben nach Suhr. Dank Kinderwagen-Spaziergang-Bekanntschaften kam er für das damals frisch gegründete Bündnis «Zukunft Suhr» in die Politik. Heute ist Genoni in einem 50-Prozent-Pensum als Geschäftsführer für die Genossenschaft der Milchproduzenten Mittelland (MPM) mit Sitz in Suhr angestellt. Als solcher vertritt er die Interessen von rund 2000 Milchproduzenten. Dieses Pensum wird er nun auf 70 Prozent erhöhen.