
Über 700 Aargauer in Drogen-Programm, doch wer kümmert sich um alte Süchtige?
Serie: Was kam nach dem Letten?
Am 14. Februar 1995 wurde in Zürich die offene Drogenszene auf dem stillgelegten Bahnhof Letten geräumt. In den Jahren zuvor pendelten viele Süchtige aus dem Kanton Aargau regelmässig nach Zürich, um sich zuerst auf dem Platzspitz und später auf dem Letten mit Heroin zu versorgen. Studien zeigen, dass etwa jede zehnte süchtige Person aus dem Aargau kam. Die AZ beleuchtet in einer dreiteiligen Serie, wie sich der Kanton nach der Schliessung der offenen Szenen um die Süchtigen gekümmert hat und wie es jenen, welche die Drogenhölle überlebt haben, 25 Jahre später geht.
Seit 1975 gibt es in der Schweiz eine gesetzliche Grundlage, welche die sogenannte substitutionsgestützte Behandlung bei einer Opioidabhängigkeit ermöglicht. Ziel einer solchen Behandlung ist es, den Heroinkonsum durch ein legales Medikament mit ähnlicher Wirkung zu ersetzen und so die körperliche und psychische Stabilisierung sowie die soziale Integration der Abhängigen zu erreichen. Am häufigsten wird hierzu Methadon verwendet. Die Kantone bewilligen und beaufsichtigen die Behandlungen.
2018 waren 718 Aargauerinnen und Aargauer in einem sogenannten Substitutionsprogramm. Die Mehrheit wurde mit Methadon behandelt (57,1 Prozent). 23,3 Prozent erhielten retardiertes Morphin. Im Substitutionsprogramm sind deutlich mehr Männer (514) als Frauen (204). Das zeigt die Statistik des Bundesamtes für Gesundheit. Dazu kommen die aktuell 26 Personen, die im Ambulatorium für Substitutionsbehandlung der Psychiatrischen Dienste Aargau (PDAG) pharmazeutisch hergestelltes Heroin erhalten.
Die Anzahl Personen in einem Substitutionsprogramm unterliegt seit 1999 keinen grossen Schwankungen. Am wenigsten Aargauerinnen und Aargauer waren 2014 in einer Behandlung, nämlich 680. 2010 waren 872 Personen substituiert. Die Statistik räumt auch mit dem Mythos auf, dass junge Menschen – abgeschreckt von den Bildern der offenen Drogenszenen – die Finger von Heroin lassen. Zwar waren die meisten Personen (56,6 Prozent) in einer Substitutionsbehandlung zwischen 40 und 54 Jahre alt. Aber immerhin 229 Personen waren jünger als 40, was 31,9 Prozent entspricht. Zwölf von ihnen waren gar unter 25. Als 1995 die offene Drogenszene auf dem stillgelegten Bahnhof Letten in Zürich geschlossen wurde, waren sie knapp geboren.
Im Aargau gibt es keine Institution für alte Süchtige
Heute wird davon ausgegangen, dass Heroinabhängige im Normalfall dauerhaft substituiert bleiben. Das stellt die Gesellschaft vor neue Herausforderungen. Wer soll sich um die alternden Süchtigen kümmern, wenn sie auf Pflege angewiesen sind und nicht mehr täglich ihr Medikament oder das Heroin in einer Abgabestelle beziehen können? Im Aargau waren 2018 acht Männer im Substitutionsprogramm älter als 65 Jahre – in den nächsten Jahren dürften es mehr werden. Viel Zeit, eine Lösung zu finden, bleibt also nicht. «Wer jahrelang abhängig war, ist körperlich 10 bis 15 Jahre älter», sagt Martin Ooms, Teamleiter des Ambulatoriums für Substitutionsbehandlung der PDAG. Er geht deshalb davon aus, dass in rund fünf bis zehn Jahren Bedarf für solche Angebote besteht. Im Kanton Aargau gebe derzeit keine entsprechenden Betreuungsangebote, sagt er.
FDP-Grossrätin Martina Sigg hat dem Regierungsrat Ende 2018 Fragen zum Thema gestellt. Aus der Antwort geht hervor, dass sich die Regierung bewusst ist, dass suchtbetroffene Menschen oft früher in ein Pflegeheim eintreten und die Sucht nur «eines von vielen Themen» bei pflegebedürftigen alten Menschen ist. Da der Zugang zu den Suchtmitteln fehle oder die Abgabe von Suchtmitteln im Pflegeheim kontrolliert und medizinisch begleitet werde, seien es Folgeerscheinungen wie Demenz oder psychiatrische Erkrankungen, die eine grosse Herausforderung in der Pflege darstellten. Die grossen Pflegeheime im Kanton seien auf solche Krankheitsbilder spezialisiert, schreibt der Regierungsrat. In der Pflegimuri gebe es zwei Wohngruppen speziell für Suchtbetroffene.
Längerfristig wird das aber kaum reichen. Das Thema müsse sicher im Rahmen der Gesundheitspolitischen Gesamtplanung aufgenommen werden, sagt denn auch Barbara Hürlimann, Leiterin der Abteilung Gesundheit. (nla)