Übersetzer in Aargauer Gerichtssälen: «Es ist mühsam, wenn eine Person nur lügt»

Bezirksrichter kritisiert das Dolmetscherwesen im Aargau

Michael Derrer, Bezirksrichter in Rheinfelden, fordert eine Professionalisierung des Dolmetscherwesens der Aargauer Justiz. Immer wieder erlebe er vor Gericht, dass Personen mit ungenügender Kompetenz für das Dolmetschen aufgeboten würden. «Dies, obwohl Mängel in der Übersetzungsleistung substanzielle Folgen haben können und gar zu Fehlurteilen führen», so Derrer. Der Aargau hinke der Entwicklung in anderen Kantonen hinterher, in denen die Schlüsselkompetenzen für die Dolmetschertätigkeit getestet würden. «Die Aargauer Justizleistung lehnte vergangenes Jahr meine Anregung einer Eintrittsprüfung für die Dolmetschertätigkeit ab und begründete dies mit zusätzlichen Kosten», schreibt Derrer in der persönlichen Medienmitteilung weiter. Es sei zu hoffen, dass sich etwas ändere: «um dem Anspruch eines modernen Justizwesens gerecht zu werden», so Derrer. (tel)

Es ist, als würde er nach Hause kommen. Als Riza Demaj die oberen Treppenstufen des Bezirksgerichts in Kulm erreicht, macht sich auf den Gesichtern aller Anwesenden ein Lächeln breit. Anwälte, Polizisten, Gerichtsmitarbeiter, sogar der Beschuldigte, der in Fussfesseln und Handschellen vor dem Gerichtssaal wartet. Alle kennen Riza Demaj mit Namen und mögen ihn.

Das fällt einem nicht schwer, denn Riza Demaj ist ein ausserordentlich positiver Mensch. Intelligent und überlegt. Bei jedem Händedruck schaut der schlanke Mann mit den blauen Augen seinem Gegenüber tief in die Augen. Angereist ist er wie bei jedem Prozess auf seinem Fahrrad. «Das mache ich egal, ob es regnet, oder schneit», sagt er.

Falsche Übersetzungen können juristische Folgen haben

Im Gerichtssaal weist Gerichtspräsident Märki den Dolmetscher auf seine Pflichten hin: «Als regelmässiger Übersetzer wissen Sie, dass sie wahrheitsgemäss übersetzen müssen.» Wer dies nicht tut, kann mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden.

Demaj sitzt neben dem Beschuldigten – einem albanisch sprechenden, 29-jährigen Mann, der seine DNA bei über 30 Einbrüchen in der Region verteilt hat. Seit drei Jahren dolmetscht Demaj in diesem Fall zwischen Behörden und Beschuldigtem. Dem Mazedonier drohen viele Jahre Haft und eine Landesverweisung. Demaj ist konzentriert. Die Fragen der Richter und die Antworten des Beschuldigten übersetzt er simultan, ohne sich nur ein Wort zu notieren.

Solche Geschichten sind Demajs tägliches Brot. Seit 25 Jahren übersetzt er für die Gerichte, bei Polizeieinvernahmen, bei Gesprächen mit der Staatsanwaltschaft, aber auch bei Eltern-Lehrer-Gesprächen an Schulen. Er tut dies in den Sprachen des ehemaligen Jugoslawiens. Zum Übersetzen sei er eher zufällig gekommen, sagt der Mann, der kosovarische Wurzeln hat. Ende 1990 kam Demaj als Flüchtling in die Schweiz. Er besuchte in Luzern einen viermonatigen Deutschkurs und zog bald in den Kanton Aargau. Er wollte unbedingt arbeiten und selber Geld verdienen. Über einen Bekannten in Suhr kam er zu seiner ersten Stelle. «Ich bin im Kosovo auf 2000 Meter Höhe aufgewachsen», erzählt er. «Wir hatten immer frische Bio-Milch. Deshalb war es mein Wunsch, in einer Molkerei zu arbeiten.» Bald wurde er bei der Aargauer Zentralmolkerei in Suhr angestellt, wo er 15 Jahre blieb und keinen Tag krankheitsbedingt fehlte. Er habe seine Arbeit dort geliebt. Bei einer Zugfahrt sei er zufällig mit einer Lehrerin ins Gespräch gekommen, die ihm von den Schwierigkeiten erzählt habe, die aufgrund mangelnder Sprach- und Kulturkenntnisse bei Elterngesprächen entstünden. «Und sie fragte mich, ob ich Lust darauf hätte, nebenbei zu übersetzen.» Mehr als zwei Jahrzehnte später hat Riza Demaj in 25’000 Fällen übersetzt.

Demaj ist seit 13 Jahren nicht mehr in die Ferien gefahren

Sein Arbeitgeber bei der Molkerei habe ihm immer erlaubt, für diese Nebentätigkeit auszustempeln und sich von der Arbeitsstelle zu entfernen. Auch, wenn die Behörden Demaj kurzfristig als Übersetzer aufboten. Doch Demaj und seine Dolmetscher-Dienste wurden immer gefragter. «Ich habe dann im Jahr 2005 meine Stelle bei der Molkerei gekündigt und mich mit einem Übersetzungsbüro selbstständig gemacht.»

Demaj ist ein pflichtbewusster Mann und nimmt jeden Anruf entgegen, der reinkommt. Es könnten die Behörden sein, die ihn kurzfristig für eine Einvernahme brauchen. «Ich war seit 2006 nicht mehr in den Ferien», sagt er und lächelt zufrieden. Mit seiner Frau hat er drei erwachsene Kinder. Er gehe höchstens übers Wochenende einmal weg, in die alte Heimat, den Kosovo. «Ich liebe die Schweiz, meine Familie und ich fühlen mich hier sehr wohl.» Wenn er abschalten wolle, steige er einfach aufs Fahrrad. «Einmal wollte ich schauen, wie viele Kilometer ich an einem Tag fahren kann. Es waren 400.» Jährlich sind es bis zu 15’000 Kilometer.

Das Fahrradfahren sei seine Art, zwischen der Arbeit und dem Nachhausekommen herunterzufahren. «Das Velo hilft mir sehr. So kann ich negative Energie loswerden.»

Ausser höchster Konzentration brauche es als Gerichtsdolmetscher auch gute Menschenkenntnis. «Manchmal merke ich, dass eine Person bei einer mehrstündigen Befragung nur Lügen erzählt. Das ist mühsam.» Trotzdem sei es nicht seine Aufgabe, die Wahrheit herauszufinden, sondern auch die Lügen wahrheitsgetreu für die Behörden zu übersetzen. «Das Übersetzen von Lügen kann dazu beitragen, dass Widersprüche aufgedeckt werden.»

Demajs Kenntnisse über die Gepflogenheiten in balkanischen Kulturkreisen helfen sowohl ihm als auch den Behörden. Das führe oftmals dazu, dass die Beschuldigten grosses Vertrauen zu ihm aufbauen.

Auch der 29-jährige Einbrecher, dem in Kulm der Prozess gemacht wird, hört mehrmals auf Demaj, als dieser ihn ermahnt, nicht unaufgefordert zu reden. Mittlerweile ist im Gerichtssaal eine gewisse Anspannung zu spüren. Der Tonfall des Gerichtspräsidenten ändert sich, weil der Befragte frech ist und sich in Widersprüche verstrickt. Auch der Tonfall des Beschuldigten wird schroffer. Er fühlt sich unverstanden und schiebt die Schuld auf Polizisten und Anwälte. Nur Demajs Ton ändert sich nicht. Geduldig und konzentriert widmet er sich weiterhin der Simultanübersetzung. «Du bist ein Lügner», schreit der Beschuldigte den Staatsanwalt an. Seine Fussfesseln rasseln am Boden. Demaj macht eine beruhigende Handbewegung. Seine Körpersprache ist unaufdringlich. Seine Präsenz aber beeindruckend.

Es passiere sehr oft, dass ihn die Beschuldigten nicht nur als Übersetzer, sondern als Landsmann anschauten. Einmal habe ihn ein Jugendlicher gebeten, für ihn zu lügen. «Ich versuche ihnen dann klarzumachen, dass meine Rolle die des Übersetzers ist. Ich kenne meine Grenzen.»

Riza Demaj erlebt durch seinen Beruf alle möglichen Schicksale. Ob Scheidungen, häusliche Gewalt, Drogendelikte, Mord oder Diebstahl. Trotzdem sei für ihn nicht jeder, der das Gesetz bricht, eine bösartige Person. «Ich kann unterscheiden zwischen einem Familienvater, der hierher kommt und schwarzarbeitet und jemandem, der in Einfamilienhäuser einbricht, um sich zu bereichern.»

Die schlimmsten Fälle seien Tötungsdelikte. «Das kann man nicht so schnell vergessen.» Wenn man langfristig und erfolgreich übersetzen wolle, müsse man eine starke Persönlichkeit haben. Er versuche, nach den Verhandlungen abzuschalten und gewisse Sachen zu löschen. «Aber manchmal geht das nicht.»

Mittlerweile regnet es draussen in Strömen. Gerichtspräsident Märki eröffnet das Urteil, Demaj übersetzt. Der Serieneinbrecher muss für sieben Jahre ins Gefängnis und wird danach für 12 Jahre des Landes verwiesen.

Trotz des nasskalten Wetters krempelt Demaj das rechte Hosenbein hoch und steigt aufs Fahrrad. Nach Suhr, wo er wohnt, ist es fast eine halbe Stunde. Wie alt Riza Demaj ist, verrät er nicht. «Ich habe die Uhr abgestellt, als ich 25 Jahre alt war. Also 25», sagt er und lacht herzlich.