Vorlagen stossen plötzlich auf Ablehnung – hat sich das Aargauer Volk gegen die Wirtschaft gewendet?

Es scheint, als ob der Kanton Aargau sein Selbstbild korrigieren müsste. Wirtschaftsfreundlich sei der Kanton, so die Wahrnehmung. Nicht ohne Grund: Über mehrere Jahre hat der Aargau im Credit-Suisse-Ranking der attraktivsten Wirtschaftsstandorte der Schweiz den dritten Platz belegt hinter Zug und Zürich. Die Zahl der Beschäftigten ist über Jahre angewachsen, was die Attraktivität belegt.

Dann kam der 24. November 2019, der Abstimmungssonntag. An diesem nasskalten Herbsttag sagten zwei Aargauer Gemeinden Nein zu Vorlagen, die im Sinne der Wirtschaft gewesen wären. Am gleichen Tag. Zum einen in Niederwil: Nein zur Umzonung im Gebiet Geere. Die hätte es gebraucht, damit der Schaumstoff- und Verpackungsspezialist Taracell hätte angesiedelt werden können. Zum anderen in Tegerfelden: Nein zur Erweiterung der Deponie Buchselhalde. Die Birchmeier Kies + Deponie AG wird eine neue Lösung finden müssen für 900’000 Kubikmeter unverschmutzten Bauaushub.

Wirtschaftsverteter sehen keinen negativen Trend

Während Niederwil die vorgesehene Umzonung abschmetterte (512 Nein- zu 201 Ja-Stimmen), scheiterte die Deponie- Erweiterung in Tegerfelden denkbar knapp (261 Nein- zu 258 Ja-Stimmen). Aber Nein bleibt Nein. Und plötzlich steht die Wirtschaftsfreundlichkeit des Kantons zur Debatte. Hat sich das Blatt im Aargau gewendet? Weht der Wirtschaft ein eisigerer Wind entgegen?

«Das sehe ich ganz anders», sagt Peter Fröhlich, Geschäftsführer des Aargauischen Gewerbeverbandes. Manchmal sei die Zeit für etwas noch nicht reif, «wie man beim Stadion Aarau ja auch gesehen hat.» Natürlich gebe es auch Projekte, die chancenlos blieben. Letztlich aber sei das Doppel-Nein im Aargau ein zeitlicher Zufall und kein Zeichen aufkommender Wirtschaftsfeindlichkeit.

Was klar ist: Platz und Bauland ist ein knappes Gut. Peter Lüscher, Geschäftsführer der Aargauischen Industrie- und Handelskammer, gibt zu bedenken: «Bei Raumordnungsfragen gibt es Interessenabwägungen, die auch einmal zu Lasten der Wirtschaft ausgehen können.» Das betreffe insbesondere Vorhaben aus den Bereichen Ver- und Entsorgung, Logistik oder Industriebauten mit grossem Platzbedarf. «Hier ist der Druck auf die Unternehmen grösser geworden», gibt Lüscher unumwunden zu. Es gehe darum, Kompromisse zu finden, die für Unternehmen und Stimmberechtigte tragbar seien. «Das ist in den letzten Jahren wohl nicht einfacher geworden.»

Politologe: «Demokratisch, nicht wirtschaftsfeindlich»

Ist der Aargau also wirtschaftsfeindlich geworden? «Nein, ganz klar nicht», sagt Politologe Daniel Kübler. Er ist Co-Direktor des Zentrums für Demokratie Aarau und hat Aargauer Gemeinden über Jahre erforscht. «Die typische Aargauer Gemeinde stimmt wirtschaftsfreundlich. Ausser, die Abstimmenden kommen zum Schluss, dass das Wohl der Allgemeinheit stärker unter Entscheidung leidet, als dass sie profitiert», sagt der Experte.

Die beiden abgelehnten Vorlagen in Niederwil und Tegerfelden seien zwei klassische Fälle des sogenannten «not in my Backyard»-Phänomens. Der englische Ausdruck heisst übersetzt «nicht in meinem Hinterhof» und beschreibt zum Beispiel diese Situation: Jeder will fliegen, aber niemand will in der Anflugschneise wohnen. «Wenn man sich gegen so etwas wehrt, hat das nichts mit Wirtschaftsfeindlichkeit zu tun, sondern mit Demokratie», sagt Kübler.

Trotzdem rutschte der Kanton Aargau im jüngsten Ranking der Credit Suisse auf Platz 4 ab. Dies, weil Basel-Stadt die Unternehmensteuer rückwirkend auf Anfang 2019 markant gesenkt hat. Und er droht weiter abzurutschen, so die Prognose der CS bis 2025. Im Gegensatz zu Genf und Basel-Land, die ebenfalls Pläne zur Senkung der Unternehmenssteuer haben, verzichtete der Aargau bis anhin darauf. Doch auch wenn er von diesen beiden Kantonen überholt würde, fände sich der Aargau noch immer auf Platz 6 und damit im vordersten Viertel der wirtschaftsfreundlichen Kantone. Es gibt derzeit also noch keinen Grund zur Revision des Aargauer Selbstbildes.