
Warum der Bundesratsentscheid für den Aargau zum Risiko werden kann – das sagt Gallati
Die Zahl der Spitaleinweisungen von Coronapatientinnen und Coronapatienten sei weiterhin hoch, habe in der letzten Woche aber nicht mehr zugenommen. So begründete der Bundesrat am Mittwoch in einer Mitteilung seinen Entscheid, die Massnahmen vorerst nicht zu verschärfen. Er weitet also weder die Zertifikatspflicht aus, noch führt er die Reisequarantäne wieder ein. Gleichzeitig hielt der Bundesrat fest, er könne jederzeit Massnahmen zur Entlastung der Spitäler beschliessen, sollte dies nötig werden.
Die Kantone hatten in ihren Stellungnahmen die vorgeschlagenen Massnahmen grossmehrheitlich unterstützt. Der Aargauer Regierungsrat hätte sich eine «zeitnahe» Ausweitung der Zertifikatspflicht gewünscht.
Gallati: «Zertifikatspflicht zeigt weniger schnell Wirkung als Schliessung»
Dass der Bundesrat den Entscheid zur Zertifikatspflicht hinauszögert, akzeptiert Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati. Begeistert klingt er aber nicht. «Der Entscheid ist nicht ohne Risiko.» Frühere Wellen hätten gezeigt, dass sich eine Schliessung von Restaurants und Bars nach 10 bis 14 Tagen in den Zahlen niederschlägt. «Bei der Zertifikatspflicht dürfte es länger dauern, bis sich eine Wirkung zeigt, weil die Massnahme weniger einschneidend ist», gibt Gallati zu bedenken.

Regierungsrat Jean-Pierre Gallati will einen kantonalen Flickenteppich möglichst verhindern.
Das Epidemiengesetz würde es den Kantonen erlauben, die Zertifikatspflicht auszuweiten. Darauf verzichtet der Aargauer Regierungsrat aber vorerst. «Wir wollen einen kantonalen Flickenteppich möglichst verhindern», sagt Gallati. Er kann sich zudem gut vorstellen, dass der Bundesrat schon bald umschwenken wird, sollte sich die Lage in den Spitälern weiter zuspitzen.
Der Aargau sei auch mit den Nachbarkantonen Zürich, Solothurn, Bern, Basel-Stadt und Baselland in permanentem Austausch, um mögliche Massnahmen gemeinsam einzuführen, sollte dies nötig werden.
299 neue Fälle im Aargau, 86 Covid-Patienten im Spital
Im Aargau entspannt sich die Lage bisher kaum. Am Mittwoch sind 299 Neuansteckungen registriert worden; 37 mehr als vor einer Woche. 86 Covid-Patientinnen und Covid-Patienten sind im Spital. 22 von ihnen lagen auf der Intensivstation. Am Mittwoch vor einer Woche brauchten 17 Covid-Patienten eine intensivmedizinische Behandlung.
Vor zwei Wochen hat der Regierungsrat vor den Medien ein dreistufiges Eskalationsmodell vorgestellt. Darin werden Kriterien für eine Verschärfung der Massnahmen definiert. Die letzte Stufe wäre ein erneuter Lockdown.
Eskalationsmodell Kanton Aargau
Kriterien | mögliche Massnahmen | |
---|---|---|
1. Eskalation | R-Wert ≥1,5 für ≥7d; >40 % IPS-Patienten, mit Covid-19, >95 % Belegung zertifizierte, IPS, elektive OP verschoben. | Repetitive Tests für alle Mitarbeitende, die nicht geimpft oder genesen sind (insbesondere in Spitälern, Kliniken und Heimen) |
2. Eskalation | R-Wert ≥1,5 für ≥7d; >50 % IPS-Patienten mit Covid-19, >100 % Belegung zertifizierte IPS, elektive und medizinisch dringliche OP verschoben. | Bewilligungspflicht für Veranstaltungen ab 100 Personen, Zertifikatspflicht für Gäste und Mitarbeitende in Bars und Restaurants |
3. Eskalation (Lockdown) | R-Wert ≥1,5 für ≥7d; >60 % IPS-Patienten mit Covid-19, belegte Zusatzbetten IPS, Notfall-OP gefährdet. | Schliessung von Bars und Restaurants, Verbot von Veranstaltungen |
Eine Ausweitung der Zertifikatspflicht in Restaurants und Bars sieht das Eskalationsmodell als mögliche Massnahme ab der zweiten Eskalationsstufe vor. Die Kriterien dafür sind aktuell aber nicht oder nur teilweise erfüllt.
Zwar müssen im Aargau bereits wieder nicht-dringende Operationen verschoben werden, um genug Kapazitäten für Covid-Patientinnen zu haben – dringende Operationen finden aber noch statt. Der R-Wert liegt mit 1,07 ebenfalls deutlich unter dem definierten Grenzwert von 1,5 während mindestens sieben Tagen und ist in der Tendenz nicht steigend.
Die Intensivstationen der Spitäler sind zwar voll, aber die zertifizierten Betten sind noch nicht zu 100 Prozent belegt. Laut Zahlen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) waren die Aargauer Intensivstationen am Dienstag zu 81,2 Prozent ausgelastet. Schweizweit ist die Auslastung mit 77,6 Prozent tiefer.
Fast 60 Prozent der IPS-Patienten sind an Covid-19 erkrankt
Bisher ist im Aargauer Eskalationsmodell nur ein Kriterium erfüllt, das für eine Ausweitung der Zertifikatspflicht sprechen würde. Aktuell werden mehr als 50 Prozent der Patientinnen und Patienten auf der Intensivstation wegen Covid-19 behandelt. Am Mittwoch lag der Anteil bei 59,5 Prozent.
«Der Anteil Covid-Patientinnen und Covid-Patienten auf den Intensivstationen ist schon kritisch», sagt auch Gallati. «Wenn er noch höher wäre oder der R-Wert in den letzten Tagen gestiegen wäre, hätte der Regierungsrat überlegen müssen, die Zertifikatspflicht von sich aus einzuführen.»
Gallati: «Jeder Covid-Patient auf der IPS ist einer zu viel»
Im Gegensatz zur zweiten Welle vor einem Jahr können die Kapazitäten auf den Intensivstationen nicht mehr von 50 auf 60 Betten aufgestockt werden. Der Grund: Um die zusätzlichen Betten zu betreiben, fehlt das Personal. Die hohe Belastung während der früheren Wellen hat dazu geführt, dass viele Pflegefachkräfte gekündigt haben.
Gallati sagt, er hätte natürlich auch lieber 60 oder 70 Intensivbetten. Gleichzeitig hält er fest, dass jeder Covid-Patient, der ein Intensivbett brauche, einer zu viel sei. «Ziel muss es sein, dass möglichst wenig Menschen schwer an Covid-19 erkranken. Das erreichen wir, indem sich möglichst viele impfen lassen.»