«Wenn es ein Mann schafft, dann schaffe ich es auch»

Sie sitzen in einem Panzer, liegen in Tarnkleidung neben einem Schäferhund in einem Feld oder geben einem Mann Anweisungen – die Frauen in der Broschüre über Frauen in der Schweizer Armee. «Ich weiss, was ich will», titelt das Büchlein, herausgegeben vom Bund. Vom ersten Kontakt am Orientierungstag bis zu einer allfälligen Schwangerschaft bei Dienstpflicht werden Fragen zum Dienst als Frau beantwortet. «Wagen Sie diesen Schritt! Es braucht Mut» steht auf den letzten Seiten.

Der Aargau informiert die jungen Schweizer Frauen persönlich über ihre Möglichkeit, der Armee beizutreten. Zwei Mal werden die Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag vom Kanton angeschrieben: Zuerst bekommen sie einen Brief zur Vororientierung, dann eine offizielle Einladung an den Orientierungstag.

29 Mädchen haben sich für einen dieser Tage angemeldet und finden sich am Freitagmorgen pünktlich um 8.00 Uhr im Zeughaus in Aarau ein. Auch 21 junge Männer nehmen am gleichen Tag teil, unfreiwillig, im Vergleich zu den Frauen. Die anfänglich scheuen Blicke nach links und rechts werden weniger, als ein Einführungsfilm gezeigt wird. Zwei junge, kecke Protagonisten führen in die Sicherheitspolitik der Schweiz ein.

Frau Wachtmeister leitet die Klasse

Danach wird die Gruppe in fünf Klassen aufgeteilt, zwei davon weiblich. «Die Frauen haben natürlich Fragen, die ein Mann nicht beantworten kann», sagt Kreiskommandant Rolf Stäuble. Deshalb sei es wichtig, dass die jungen Frauen die Möglichkeit bekommen, mit einer weiblichen Angehörigen der Armee über ihre Erfahrungen zu sprechen. «Sie haben beispielsweise Fragen dazu, wie es ist, wenn sie ihre Tage haben», sagt Wachtmeister Alexandra Bender. Sie leitet eine der zwei Frauenklassen. «Oder auch Fragen dazu, wie es auf einem langen Marsch sein wird, wenn sie austreten müssen. Ein WC gibt es ja nicht», fügt sie hinzu. Als Bender 2009 die Rekrutenschule absolvierte, war sie die einzige Frau in ihrer Truppe. «Ich wurde gut akzeptiert von meinen Kameraden», erzählt sie. Sie trägt Tarnanzug und Militärschuhe, die blonden Haare zusammengebunden, die Nägel rosa lackiert. Sie spricht klar und wirkt streng, macht aber hie und da einen Witz, um die Stimmung im Klassenzimmer aufzulockern: «Ich empfehle ihnen nicht, sich zu schminken, es verschmiert im Verlauf des Tages sowieso.» Trotzdem erinnert sie die Mädchen daran, wie der Alltag in der Kaserne aussieht: «Es wird ihnen gesagt, wann sie aufstehen müssen und wann sie duschen können.» Ehrlichkeit und Klarheit seien am Orientierungstag wichtig, sagt Bender, damit keine falschen Erwartungen entstehen. «Es ist wichtig, dass sie informiert sind darüber, dass sie die Leistung wirklich bringen müssen», sagt sie.

Frauen wissen, was sie wollen

Die Mädchen schauen gespannt die Videos über Kämpfer und Panzergrenadiere. Ein Zettel verrät, welche Ausbildung sie gerade absolvieren. Oder welches Hobby sie haben. Drogistinnen, medizinische Praxisassistentinnen oder Innendekoratorinnen, die in ihrer Freizeit tanzen, schwimmen oder schiessen. Bei einer Teamübung sollen sie herausfinden, in welche Truppengattung sie mit ihren Potenzialen am ehesten passen würden. «Da die Frauen freiwillig hier sind, haben sie oft gezieltere Vorstellungen davon, in welcher Funktion sie sich sehen», sagt Kreiskommandant Stäuble. Frauen hätten oft Neigungen zu Armeetieren, Männer sehen sich eher als Grenadier. Frauen stehe bei der Rekrutierung zudem offen, ob sie Militär, Zivilschutz, oder – wenn sie aus einem Pflegeberuf kommen – Rotkreuzdienst machen wollen. «Sowohl Frauen als auch Männer haben die gleichen Rechte und Chancen und müssen die gleichen Prüfungen machen», sagt Stäuble. Für die jeweiligen Funktionen müssten beide Geschlechter die gleiche Punktzahl erreichen. «Wir wollen die Besten für uns gewinnen, ob Frau oder Mann.»

Vor der Mittagspause verschieben sich die jungen Frauen «in Zweierreihen» in die Kaserne. Zwei Panzerfahrzeuge stehen dort bereit. «Wer wollte schon immer einmal auf einen Panzer klettern?», fragt Alexandra Bender in die Runde. Ob schüchtern oder selbstsicher – die Frauen könnten unterschiedlicher nicht sein. «Mein Vater und mein Grossvater waren beide im Militär und mein Onkel ist Panzergrenadier», sagt Noelle Wertle. Die 17-Jährige aus Ueken trägt Tarnhosen und hat die Haare rot gefärbt. «Das hat mich schon immer fasziniert. Es ist etwas, was man für sein Land machen kann. Und wenn man sein Land liebt, macht man es auch.» Sie wisse ganz genau, dass sie entweder in die Artillerie oder in die Infanterie möchte. «Klar, es wird hart sein, denn man wird immer nur Männer um sich herum haben», fährt sie fort. Wenn man ins Militär möchte, müsse man auch bereit sein, Kompromisse einzugehen.

Kasernenluft schnuppern

Mittlerweile stehen die Mädchen auf dem Panzerfahrzeug. «Sie blühen im Verlaufe des Tages auf», sagt Fachoffizier Marco Isenschmid. Er ist der Chef der Orientierungstage. «Schon in der ersten Pause tauschen sie die Natelnummern aus.» Bis zum Ende des Orientierungstages bildeten die jungen Frauen üblicherweise bereits die ersten Whatsapp-Gruppen. «Die Frauen finden sich viel schneller.»

Vanessa Feldmann ist 18 Jahre alt und hat langes, braunes Haar. Obwohl sie auf den ersten Blick eher zurückhaltend wirkt, gehört sie zu den jungen Frauen, die sich schon für eine Funktion entschlossen haben: «Ich habe bereits den Motorfahrerkurs gemacht», sagt sie. In ihrer Familie sei das Interesse für das Militär nicht üblich: «Ich hatte selbst immer die Begeisterung dafür und will es jetzt durchziehen.» Viele Fragen seien hier am Orientierungstag geklärt worden, sagt die junge Frau, die in der Nähe von Wohlen wohnt. Angst davor, die einzige Frau in der RS zu sein, habe sie keine: «Als ich den Motorfahrerkurs gemacht habe, war ich auch die einzige Frau und wurde kein Bisschen anders behandelt.» Man gehöre einfach zur Truppe dazu.

Nach dem Panzerfahrzeug geht es weiter in die Schlafräume. Die Mädchen nehmen auf den Betten Platz, während Alexandra Bender die strengen Regeln für das Beziehen der Betten erklärt. Die jungen Frauen hören ihr aufmerksam zu: «Nehmt einen Mehrfachstecker mit», empfiehlt sie. Realistischerweise werden die Frauen aber nicht im Zwölferschlag schlafen müssen, hält Oberst Stäuble fest: «Sie werden höchstens zu viert sein.» Bei der Sanierung der Kaserne in Aarau habe man die wachsende Anzahl Frauen berücksichtigt, sagt Stäuble: «Wir haben bestehende Duschen und WCs unterteilt, das hatten wir vorher alles nicht.»

«Mich interessieren die Weiterbildungsmöglichkeiten im Militär», sagt Jasmin Jacquat aus Wil, während sie auf einem der Rekrutenbetten sitzt. Die 17-Jährige war schon drei Mal im Sanitätslager. Sie sei zwar zur Orientierung hier, wolle aber ziemlich sicher in die Sanität. Aktuell macht Jasmin eine Lehre als Fachfrau Gesundheit.

Sofia Birrer aus Suhr will am Orientierungstag herausfinden, wie es als Frau sein könnte im Militär. Sie sei nicht sicher, ob sie die sportliche Leistung bringen könne: «Dann denke ich aber, wenn es alle anderen Männer schaffen, schaffe ich es auch.» Obwohl sie noch unentschlossen ist, setzt sie ihre Ziele im Falle einer Verpflichtung hoch: «Ich kann mir vorstellen in die Fliegertruppe zu gehen. Ich möchte in Richtung Militärpilotin gehen.»

Frauen mit positivem Einfluss

Oberst Stäuble freut sich über das wachsende Interesse der Frauen an der Armee: «Weshalb sollte eine Frau weniger Kompetenzen oder Fähigkeiten haben als ein Mann?», sagt er. Sicherheitspolitik sei längst nicht mehr nur Männersache: «Frauen tun uns gut.» In der jetzigen Phase sei eine Frau als Chefin des VBS ein Glücksfall, sagt Stäuble über seine oberste Chefin, Bundesrätin Viola Amherd: «Zum Beispiel wenn eine Frau gegenüber Frauen glaubhaft erklären kann, warum es Kampfflugzeuge braucht.» Stäuble betont auch den positiven Einfluss, den Frauen auf eine Kompanie haben können: «Eine reine Männergruppe kommt vielleicht eher auf dumme Ideen, Frauen sind überlegter.»

Den Mittag verbringen die Frauen in der Kantine der Kaserne. Zu Essen gibt es Kartoffelstampf und Fischknusperli. «Für die drei Mahlzeiten stehen 8.75 Franken zur Verfügung. Da gibt es halt kein Filet», sagt Stäuble. Die Frauen und Männer hätten Anrecht darauf, dass ihnen ein spannender und ehrlicher Orientierungstag geboten werde. «Dazu gehört es auch, den jungen Menschen, vor allem den Männern, klarzumachen, dass die Rekrutenschule kein Hotel Mama ist.»

Nach der Teilnahme am Orientierungstag sind die Frauen im Gegensatz zu den Männern noch nicht meldepflichtig. Sie können entscheiden, ob sie sich für die Rekrutierung anmelden möchten oder nicht. Auch bei Feststellung der Tauglichkeit kann eine Frau auf den Dienstantritt verzichten, wenn sie zum Beispiel nicht die Funktion bekommt, die sie sich gewünscht hat.

«Wir haben das Ziel noch lange nicht erreicht», sagt Kreiskommandant Rolf Stäuble. Schweizweit sei man bei einem Frauenanteil von 0,7 Prozent, im Aargau liege man bei etwa einem Prozent. «Wir wollen mindestens das Doppelte.» Aber: Die Zahlen der letzten Jahre zeigen, dass sich in der Schweiz und im Kanton Aargau immer mehr Frauen für die Armee interessieren: 2014 meldeten sich 73 Frauen aus dem Aargau für die Teilnahme an einem Orientierungstag an, 2018 waren es bereits 122. In beiden Jahren meldeten sich im Aargau 42 Frauen für die Rekrutierung an. Freiwillig, versteht sich. 158 Frauen wurden im 2013 schweizweit tatsächlich für die Rekrutenschule aufgeboten, fünf Jahre später waren es bereits 280 Frauen.

Frauen gezielter ansprechen

Ein Zufall sind diese steigenden Zahlen nicht. Seit der Einführung der Armee XXI im Jahr 2004 stehen Frauen im Militär sämtliche Funktionen offen, wie Armeesprecher Stefan Hofer sagt: «Generell wird das Thema «Frauen und Armee» in den vergangenen Jahren von der Armee stärker gewichtet.» Die Frauen werden gezielt angesprochen. So setzt die Armee auf Social-Media-Kanäle, auf Auftritte und Referate von weiblichen und männlichen Armeeangehörigen in Schulen, Vereinen und Klubs. Vor allem aber werden die jungen Frauen von den Kantonen direkt angeschrieben und über die Orientierungstage informiert. Es sei im Interesse des eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS), Frauen für den Militärdienst zu begeistern: «Das Klischee von männer- oder frauendominierten Tätigkeitsbereichen wird von der Realität zunehmend überholt. Das gilt auch für die Armee», sagt Stefan Hofer. Frauen, die heutzutage in sämtlichen Berufen und Tätigkeiten zu finden seien, könnten ihre Erfahrungen und Kenntnisse auch «gewinnbringend für die Sicherheit unseres Landes einsetzen». Für die Armee sei das ein Gewinn, weil sie so einen grösseren Pool hat, aus welchem sie die am besten geeigneten Personen für die jeweiligen Funktionen rekrutieren kann.

2013:

Anzahl Frauen in der RS: Tendenz steigend

Die Anzahl der einrückungspflichtigen Frauen hat sich in den letzten fünf Jahren fast verdoppelt. So viele Frauen wurden in den letzten Jahren schweizweit für die RS aufgeboten:

158 Frauen

2014: 165 Frauen

2015: 203 Frauen

2016: 197 Frauen

2017: 245 Frauen

2018: 280 Frauen