
Wie Aargauer Coronaskeptiker versuchen, die Maskenpflicht zu umgehen
Es brauche viel Mut und Nerven, schreibt Silvia. «Nach dem Einkauf fühlt es sich aber saugeil an, wenn man positive Erlebnisse hatte.» Seit Oktober ist Silvia (Nutzername geändert) Mitglied einer sogenannten Telegram- Gruppe (siehe Kasten) von Aargauer Maskenkritikern. Auf dem Nachrichtendienst informieren sich rund 81 Nutzer darüber, in welchen Geschäften trotz Maskenpflicht ohne Schutz eingekauft werden kann. «Kundenfreundliche Läden» nennen sie die Geschäfte, in denen sie nicht zum Tragen einer Maske aufgefordert werden oder in denen nicht nach dem Attest gefragt wird. «Maulkorb» oder «Windeln» werden Gesichtsmasken abschätzig genannt.
Offen wird im Chat auch die Möglichkeit einer ärztlichen Maskendispens diskutiert. Immer wieder kursiert das «Sach- und Rechtsattest» des Bündner Anwalts Heinz Raschein, über das diverse Medien berichteten. Damit könne man sich ohne Maske im öffentlichen Raum bewegen, heisst es. Egal ob Verkäufer oder Fitnesscenterbetreiber: Wer das Attest nicht akzeptieren wolle, werde aufgefordert, das per Unterschrift zu bestätigen. Wer dies tue, dem werden rechtliche Schritte wegen Nötigung angedroht.
Dem Zürcher Rechtsanwalt Martin Steiger ist das Schreiben bekannt. «Was in diesem Attest steht, ist Geschwurbel, das keinerlei rechtliche Bedeutung hat», sagt er. Mehrmals schon wurde er gefragt, ob man das Attest wirklich unterschreiben müsse. Der Anwalt verneint vehement: «Das Schreiben ist eine Lachnummer.»
«Zusammengewürfelte Scheinargumente»
Gleich sieht das Regina Aebi-Müller, Professorin für Privatrecht an der Universität Luzern, die im November im Magazin «Beobachter» Auskunft gab: «Ein solches Schreiben ist mit Sicherheit kein gültiges Attest, das von der Maskenpflicht befreit. Der Anwalt hat juristische Scheinargumente wild zusammengewürfelt.»
Anwalt Raschein, auf den sich Maskengegner berufen, sagte denn auch zum «Beobachter»: «Wenn man den Text genau liest, weiss man, dass ich mit dem Dokument nur die Rechtslage bestätige, aber kein Attest ausstelle.»
Trotzdem setzen viele Maskengegner auf Rascheins «Sach- und Rechtsattest». Eine Nutzerin berichtet von einem Besuch in einem Bioladen, den sie mit dem Schreiben betrat. «Ich habe daraus gelernt, dass es besser ist, selbstverständlich reinzugehen und davon auszugehen, dass alles gut geht», schreibt sie. Längst nicht alle Läden nehmen es zudem mit der Kontrolle genau. Telegram-Nutzer berichten von Ladenbetreibern, die zugeben, dass bei ihnen nicht nach Attest oder Maske gefragt wird. Eine Nutzerin will wissen, wie es bei Ärzten und Therapeuten aussieht. Sie dürfe nicht Werbung machen, schreibt eine Alternativmedizinerin. Aber: «Ich würde dich in meine Praxis lassen. Es gibt einige Klienten, die es ohne Maske vorziehen.»
© Screenshot Telegram/zVg
So gehen Coop und Migros mit Maskenverweigerern um
Wie reagieren Grossverteiler, wenn ein Kunde keine Maske trägt? Auf Anfrage heisst es bei Coop, dass die Angestellten auf die Thematik sensibilisiert wurden. «Entsprechend der gesetzlichen Pflicht sprechen sie Kunden an, die keine Maske tragen», sagt ein Coop-Sprecher. Nur wer ein Maskendispens vorweisen kann, dürfe ohne Maske einkaufen. Und: «Um die Persönlichkeitsrechte zu schützen, muss auf der Dispens lediglich festgehalten sein, dass jemand von der Maskenpflicht befreit ist, ohne das Krankheitsbild zu erwähnen.»
© Screenshot Telegram/zVg
Wie Coop betont auch die Migros, dass sich die meisten Kunden verständnisvoll und kooperativ zeigen. Trotzdem sei die Situation sehr herausfordernd. «Kunden, welche beim Eintreten keine Maske tragen, werden auf die Maskentragpflicht aufmerksam gemacht», schreibt die Sprecherin der Genossenschaft Migros Aare. «Sollten sich Kunden, welche keine medizinischen Gründe haben, weigern, eine Maske zu tragen, bitten wir diese, die Filiale zu verlassen.»
Nicht selten kommt es zu Diskussionen mit dem Verkaufspersonal. So hat eine Kundin laut Aargauer Staatsanwaltschaft Anzeige wegen Nötigung gegen das Personal eines nicht genannten Ladens erstattet. Dies, weil die Angestellten ihr ohne Maske den Zutritt verweigert haben. «Die Oberstaatsanwaltschaft hat diese Anzeige jedoch nicht an die Hand genommen, weil das Personal durch das Wegweisen der Frau klarerweise keine strafbare Nötigungshandlung vornahm, sondern seiner rechtlich gebotenen Pflicht und Verantwortung nachgekommen ist», schreibt Fiona Strebel von der Aargauer Oberstaatsanwaltschaft.
Wer als Ladenbetreiber das Schutzkonzept und die geltende Maskentragpflicht vorsätzlich nicht durchsetzt, dem drohen Strafen. Dies besagt der Artikel 13 der Covid-19-Verordnung besondere Lage. Wie ein Betreiber die Pflicht durchsetzen will, müsse er selber entscheiden, schreibt Strebel: «Ein zweckmässiges Vorgehen ist es, Personen, die keine Maske tragen und keine Ausnahmeregelung unmittelbar belegen können, den Zutritt zu verweigern.»
Wer ohne Nachweis von medizinischen Gründen ohne Maske einen Laden betritt, kann ab 2021 mit einer Ordnungsbusse belangt werden. Die entsprechende Änderung des Ordnungsbussengesetzes hat das Bundesparlament in der Wintersession gutgeheissen.
Was steckt hinter Telegram?
Der alternative Social- Media-Kanal Telegram wurde 2013 von zwei russischen Brüdern gegründet. Allein aus dem Aargau tummeln sich über fünf verschiedene Gruppen von Coronaskeptikern auf diesem Kanal. Entstanden sind sie zum Teil als Abspaltung der Corona-Rebellen Schweiz. Organisiert werden von hier aus Unterschriftensammlungen für das Referendum gegen das Covid-19-Gesetz oder Verteilaktionen von Flyern. Diskutiert wird auch über die US-Wahlen, Terroranschläge und die Gefahren von 5G. Die meisten in den Chats getätigten Aussagen fallen laut Anwalt Martin Steiger, der sich auf Recht im digitalen Raum spezialisiert hat, in den Bereich der freien Meinungsäusserung. Grenzen seien natürlich antisemitische Symbole, ehrverletzende Äusserungen oder Aufrufe zur Gewalt. «Gerade in solchen Gruppen stacheln sich die Mitglieder schnell gegenseitig auf. Dann kann es gut sein, dass der eine oder andere in den Bereich der Strafbarkeit rutscht», so Steiger. Trotzdem gehen viele dieser Nutzer locker mit ihren Daten und geben persönliche Angaben preis. In den Aargauer Telegram- Gruppen sind breite Bevölkerungsgruppen vertreten: Lehrer, Bäuerinnen, Homöopathen. Junge und alte Menschen, Frauen und Männer, einige treten auch als Paar auf.