
Wie viel Lockdown braucht die Schweiz? Das fordern Glarner, Suter, Pfisterer und Binder
Braucht es schärfere Coronamassnahmen, gar einen zweiten Lockdown? Eine Umfrage unter den vier grössten Aargauer Parteien ergibt ein sehr kontroverses Bild. CVP-Kantonalpräsidentin und Nationalrätin Marianne Binder hofft sehr, dass ein zweiter Lockdown dank einer nun besseren Koordination zwischen Bund und Kantonen vermieden werden kann. Es sei «irritierend, dass der Bundesrat lange die Dinge treiben liess und nun in immer grösserer Kadenz die Kantone übersteuert». Ganz zentral sei eine bessere und kohärente Kommunikation.
Offenbar ist die Situation in den Spitälern und Langzeitpflegeeinrichtungen besorgniserregend und die Pflegenden kommen an ihre Grenzen. Darüber müsse die Bevölkerung von offizieller Seite authentisch informiert werden. Binder: «Es erhöht die Akzeptanz der Anstrengungen zur Eindämmung der Pandemie und es stärkt das eigenverantwortliche Handeln.
Dazu kommt: Niemand hat etwas gegen Massnahmen, sie sollten einfach im Einzelnen besser begründet werden und der Nutzen ersichtlich. Dann wird auch weniger darüber diskutiert.» Hat sie ein Beispiel? Es leuchte vielen nicht ein, warum man am Sonntag kurz vor Weihnachten die Läden schliesst, wenn sich dann dafür am Samstag doppelt so viele Menschen hineindrängen.
Glarner: «Kantone hatten den ganzen Sommer Zeit»
Anders beurteilt dies der SVP-Kantonalpräsident und Nationalrat Andreas Glarner. Was der Aargau beschlossen hat, akzeptiert er, aber: «Das reicht, mehr braucht es nicht.» Wirklich nicht angesichts knapper werdender Betten? Dieses Argument lässt Glarner nicht gelten: «Die Kantone hatten den ganzen Sommer Zeit, um die Kapazitäten für die zweite Welle aufzustocken, notfalls auch Pflegepersonal aus der Rente zurückzuholen. Und wo fehlt es jetzt an Betten?
In denselben Kantonen wie im Frühling!» Wenn man mit früheren Jahren vergleiche, gebe es zurzeit insgesamt keine Übersterblichkeit, findet Glarner. Es sei zwar «eine fürchterliche Güterabwägung», aber man müsse sie machen. Die meisten, die sterben, seien deutlich über 80 Jahre: «Selbstverständlich ist jedes einzelne Schicksal für die Betroffenen und Angehörigen schrecklich.»
Wenn man erreiche, dass sie etwas länger leben, nehme man dafür grosse wirtschaftliche und menschliche Tragödien in Kauf: «Gesunde Firmen, die pleitegehen, riesige Kosten und neue Schuldenberge, Menschen, die sich infolge Vernichtung ihrer Existenz aus Verzweiflung etwas antun. Ein zweiter Lockdown ist unbedingt zu vermeiden.»
Suter: «Wir müssen auf den Rat der Experten hören»
Nochmals ganz anders beurteilt die SP-Kantonalpräsidentin und Nationalrätin Gabriela Suter die Situation. Sie sagt: «Die Massnahmen genügen nicht, der Bundesrat muss das Heft wieder selbst in die Hand nehmen. Ob ein Ampelsystem oder ein Lockdown kommt – was sich nicht gegenseitig ausschliesse –, sei nicht an ihr zu entscheiden. Es seien wissenschaftsbasierte Entscheide und Massnahmen zu treffen. Der Bund habe eine Taskforce mit hochkarätigen Expertinnen und Experten aus Gesundheit und Wirtschaft: «Wir müssen auf ihren Rat hören!»
Dass die Schweiz derart hohe Todeszahlen in Kauf nimmt, sei ethisch bedenklich, kritisiert die Aargauer SP-Präsidentin: «Viele der Verstorbenen hätten noch mehrere Jahre ein erfülltes Leben leben können. Ich bin froh um den Hilferuf der Spitäler. Und ich hoffe, dass sich nun trotz Coronamüdigkeit alle am Riemen nehmen, wenn ihnen so deutlich vor Augen geführt wird, in welcher dramatischen Lage wir uns befinden.»
Pfisterer: «Sagen, worauf man den Entscheid stützt»
Der FDP-Kantonalpräsident und Grossrat Lukas Pfisterer kritisiert die neusten Bundesratsmassnahmen: «Manche sind nicht nachvollziehbar. Warum soll es in einem Restaurant um 19 Uhr gefährlicher sein als um 17 Uhr? Warum muss ein Museum schliessen, wo ja kaum ein Gedränge herrscht und die Schutzmassnahmen gut eingehalten werden können?»
In der SRF-Sendung «Arena» sei das Wort «Willkür» gefallen. Zu Recht, findet Pfisterer, solange keine überzeugende Begründung geliefert werde. Der Bundesrat müsse sagen, worauf er seine Entscheide stütze und wo er Informationslücken habe und daher Annahmen treffe: «Denn die Menschen haben ein Recht zu wissen, warum etwas kommt und was man sich davon verspricht. Dann werden die Massnahmen auch besser eingehalten.»