«Wir sind auf der Hut»: Die Schulschliessung im Aargau ist «Ultima Ratio»

Ein Kind erzählt seiner Lehrerin, dass sein Papi sich mit dem Coronavirus angesteckt hat und darum jetzt daheim ist. Das Kind aber kommt in die Schule. Ein anderes wartet noch auf sein Testresultat, sitzt aber ebenfalls im Klassenzimmer, ein weiteres hustet und klagt über Halsweh. «Da verschliesst man die Augen vor möglichen Auswirkungen», sagt Kathrin Scholl, die Präsidentin des Aargauischen Lehrerinnen- und Lehrerverbands (ALV).

Sie ist besorgt, vor Weihnachten sei es an Aargauer Schulen zu Übertragungen von Kindern auf Lehrpersonen gekommen, weiss sie. Auch den umgekehrten Fall gab es bereits mehrfach, Kinder, die das Virus von der Schule nach Hause gebracht haben. So wurde beispielsweise an einer Primarschule eine Lehrerin positiv getestet, eine Woche später drei Kinder. Die Schule Full-Reuenthal musste Mitte Dezember gar schliessen, weil mehrere Lehrpersonen und Schüler sich angesteckt hatten oder sich in Quarantäne befanden. Der Betrieb der kleinen Schule war so gar nicht mehr möglich.

«Möchten nicht wieder in den reinen Fernunterricht»

Dennoch haben die Schulen im Aargau, wie in der ganzen Schweiz, nach den Weihnachtsferien den Präsenzunterricht wieder aufgenommen, mit Ausnahme der Universitäten und Fachhochschulen. An Kantons- und Berufsschulen gab es diese Woche zudem Fernunterricht, ab Montag gehen aber auch sie wieder in den Präsenzunterricht. Das soll möglichst so bleiben, sind sich Lehrerverband und Kanton einig. «Wir möchten nicht wieder in den reinen Fernunterricht wie im Frühling», sagt Kathrin Scholl. Und Bildungsdirektor Alex Hürzeler sagt: «Für den Kanton Aargau stellen allfällige Schulschliessungen die Ultima Ratio dar.»

Bildungsdirektor will eine überregionale Lösung

Ob sich diese ganz vermeiden lassen, bestimmt aber die Pandemie. Der Bundesrat hat diese Woche an die Kantone appelliert, sich auf eine mögliche Verschlechterung der Lage vorzubereiten, sodass zusätzliche Massnahmen an den Schulen rasch umgesetzt werden könnten. Sorgen bereitet insbesondere die Virusmutation, die als ansteckender gilt als die bisherige Form. Zweitens ist kurz nach den Ferien unsicher, wie sich die Ansteckungen während der Festtage entwickelt haben.

Komplette Schliessung sei die letzte Massnahme

«Wir sind auf der Hut», sagt Bildungsdirektor Hürzeler. Sollte sich die Lage wie in England entwickeln, wo die Zahl der Ansteckungen einen neuen Höchststand erreicht hat, müsse man sogar Schulschliessungen diskutieren. Ein Alleingang komme für den Kanton Aargau jedoch nicht in Frage. «Sollte eine Verschärfung unumgänglich werden, strebt der Kanton Aargau zwingend eine nationale, mindestens eine überregionale Lösung an.»

Das Bildungsdepartement stehe in engem Austausch mit den umliegenden Kantonen, am Donnerstag erst besprach sich die Nordwestschweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz. «Es würde keinen Sinn machen, in einem Kanton die Schulen zu schliessen, wenn sie im Nachbarkanton offen sind», so Hürzeler. Es brauche mindestens überregionale Lösungen. Aber auch hier: Eine komplette Schliessung der Schulen wie im Frühling sei die letzte Massnahme, die man ergreifen wolle. Und wenn, denn soll diese abgestuft erfolgen.

Vor Schliessung weitere Massnahmen prüfen

Doch gibt es überhaupt noch weiteren Spielraum? «Die Frage ist, inwiefern die Schutzmassnahmen an den Schulen erhöht werden können», sagt Kathrin Scholl. Derzeit gilt Maskenpflicht erst ab der Oberstufe, man könnte etwa ins Auge fassen, diese bereits ab der 4. Klasse einzuführen. Auch müssten Eltern, Schülerinnen und Schüler ständig auf die geltenden Regelungen aufmerksam gemacht werden.

«Kinder sollen getestet werden, wenn sie sich angesteckt haben könnten, und kranke Kinder oder solche, bei denen ein Testresultat noch nicht vorliegt, müssen zu Hause bleiben», appelliert die Lehrerverbandspräsidentin. Weiter könnte man mit Eltern ausmachen, dass sie ihre Kinder nur noch in kleinen, immer gleichen Gruppen auf den Schulweg schicken. «Es braucht jetzt mehr Information und Sensibilisierung. Erst dann soll der Fernunterricht wieder Thema werden», so Scholl.

Die einzelnen Schulen behalten Spielraum

Der ALV erwartet vom Bildungsdepartement Szenarien und Unterstützung, damit rasch reagiert werden kann. Der ALV und das Bildungsdepartement stehen in engem Kontakt. «Die Anliegen werden intensiv diskutiert und fliessen in die weitere Arbeit ein. Zudem stehen den Schulen umfangreiche Informationen im Schulportal zur Verfügung, die laufend ergänzt und aktualisiert werden», sagt Alex Hürzeler.

In der Umsetzung vor Ort lasse der Kanton aber bewusst Spielraum, weil es grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Schulen gebe, was unterschiedliche Lösungen erfordere. Wo nötig leiste das Bildungsdepartement Unterstützung. «Die Schulleitungen und die Lehrerinnen und Lehrer haben im letzten Frühling gezeigt, dass sie diesen Spielraum verantwortungsbewusst und angemessen zu nutzen wissen», so Hürzeler.

Ob es bald weitere Massnahmen braucht, ist unsicher. Einen vagen Horizont sieht Kathrin Scholl. «Ich nehme an, dass bis zu den Sportferien klar ist, ob sich die Lage noch verschlimmert.»

Zuerst die Kantonsschulen, Primar und Kindergarten zuletzt

Schulschliessungen Eine komplette Schulschliessung wie im Frühling wollen weder Bildungsdirektor noch die Lehrpersonen. Falls Fernunterricht aber wieder nötig werden sollte, könnte man differenzieren zwischen den einzelnen Stufen. Auf der Sekundar stufe 2 wurde diese Woche aus der Ferne unterrichtet, weitere solche Phasen seien nicht auszuschliessen, sagt Bildungsdirektor Alex Hürzeler.

Zuerst würden Kantons- und Berufsschulen in den Fernunterricht geschickt, danach die Sekundarschulen und erst ganz zuletzt die Primarschulen und Kindergärten. «In der Volksschule ist Fernunterricht deutlich her aus fordernder und schwieriger als an Mittel- und Berufsschulen», so Hürzeler.

«Nur Betreuung zu organisieren, reicht vielleicht nicht»

Das sieht auch Lehrerverbandspräsidentin Kathrin Scholl so: «Manchen Kindern tut der Fernunterricht gar nicht gut.» Käme es zur Schliessung von Primar- und Sekundarschule, müssten die Schüler mindestens die Möglichkeit haben, in der Schule arbeiten zu können, die Jüngeren auch in kleinen Gruppen.

«Nur die Betreuung zu organisieren, reicht vielleicht nicht. Es braucht eine Schulung in Kleingruppen für jene, die das brauchen», so Scholl. Hybridunterricht, bei dem ein Teil der Klasse im Fernunterricht ist und der andere in der Schule, sei zwar auch eine Möglichkeit. Das wurde teilweise an der Sekundarstufe 2 so gemacht. «Auf Dauer ist diese Form aber für Schüler und Lehrpersonen sehr anstrengend», so Scholl. (eva)