
Zwei Drittel der Aargauer trinken belastetes Wasser – warum das nicht unbedingt sofort behoben werden muss
Chlorothalonil: Die Vorgeschichte
Jahrzehnte lang galt das Pestizid Chlorothalonil als unbedenklich, in der Landwirtschaft wurde es tonnenweise eingesetzt. Dann kamen Studien zum Schluss: Der Stoff könnte krebserregend sein. Der Einsatz von Chlorothalonil wurde verboten. Die Abbaustoffe des Pestizids sind mittlerweile aber in vielen Gebieten im Mittelland ins Grundwasser gesickert. Und da das Trinkwasser in der Schweiz mehrheitlich aus Grundwasser gewonnen wird, hat der Bund für die Abbaustoffe einen Höchstwert von 0,1 Mikrogramm pro Liter erlassen. Das ist de facto eine Nulltoleranz. Damit die Stoffe bei dieser Konzentration gefährlich werden, müsste man mehrere tausend Liter Wasser täglich trinken. Doch der Bund möchte im Trinkwasser keine Pestizidrückstände, egal ob gefährlich oder nicht. (rka)
Gefährlich ist es nicht, im Aargau Wasser ab Hahn zu trinken. Doch in grossen Teilen des Kantons hat es zu viele Abbaustoffe eines Pestizids im Trinkwasser. Das zeigt eine Stichprobenuntersuchung bei den 20 grössten Wasserversorgern im Aargau. In zwei Dritteln der Fälle finden sich zu viele dieser Stoffe im Trinkwasser. «Diese Stichprobe ist repräsentativ», sagt Kantonschemikerin Alda Breitenmoser. «Zwei Drittel der Menschen im Aargau trinken Wasser, das nicht die gesetzlichen Anforderungen erfüllt.» Betroffen sind demnach um die 440’000 Menschen, sofern sie Hahnenwasser trinken.
Von der Stichprobengruppe am stärksten betroffen sind Lenzburg, Reinach und Wohlen. Um fast ein fünffaches wird hier der Grenzwert von 0,1 Mikrogramm pro Liter überschritten:
Konkret geht es um das Pestizid Chlorothalonil (siehe Box unten). Das Pestizid ist mittlerweile verboten. Jahrelang durfte es aber auf den Feldern eingesetzt werden, versickerte im Boden, zersetzte sich, bis schliesslich die verschiedenen Abbaustoffe im Grundwasser und damit auch im Trinkwasser landeten.
Dabei geht es vor Allem um einen Abbaustoff, der nun problematisch ist. Er ist vergleichsweise neu. Erst seit knapp einem Jahr kann er überhaupt nachgewiesen werden. Er hat noch nicht einmal einen Namen, sondern nur eine Nummer: R471811. Es ist nun genau dieser Abbaustoff, der vielerorts im Wasser zu finden ist und die Gemeinden vor Probleme stellt.
Der Abbaustoff des Pestizids ist nicht gefährlich
Paradoxerweise ist das Trinkwasser mit diesem Abbaustoff gar nicht gefährlich. Das zeigen Studien. Darauf weisen denn auch zahlreiche Gemeinden wie auch das kantonale Amt für Verbraucherschutz hin. Die Grenzwerte gelten trotzdem auch für diesen Stoff. Weil das Ursprungsprodukt, also das Pestizid Chlorothalonil, als möglicherweise krebserregend eingestuft wurde, müssen automatisch sämtliche Abbauprodukte die gesetzlichen Grenzwerte einhalten. Egal wie gefährlich sie im Einzelfall sind.
So oder so: Die Wasserversorger müssen reagieren. Ursprünglich hiess es: Innert zwei Jahren. Diese Frist war, wie sich herausstellte, unrealistisch angesetzt worden. Die Probleme lassen sich nicht kurzfristig lösen. Weil so viele Gemeinden dasselbe Problem haben, kann eine betroffene Gemeinde nicht einfach Wasser aus dem Nachbarsdorf beziehen. Es braucht nicht nur neue Leitungen, sondern auch ganz andere Lösungen. Das braucht Zeit, müssen die Lösungen doch zuerst gefunden, geplant, bewilligt (unter anderen von einer Gemeindeversammlung) und umgesetzt werden.
Und das kostet viel Geld. Wie viel genau, ist unbekannt. Schätzungen gibt es beim Kanton keine. Es dürfte aber in die Millionen gehen. Millionen, die die Gemeinden zu bezahlen haben. Weder vom Kanton noch vom Bund gibt es finanzielle Unterstützung.
Gemeinden bekommen mehr Freiheiten
Aus all diesen Gründen ist der Bund den Gemeinden etwas entgegengekommen: Die Probleme müssen, wenn dies nicht möglich ist, nicht innert zwei Jahren gelöst werden. Sondern innert einer angemessenen Frist. Was angemessen ist, können die Kantone entscheiden.
Hier kommt auch der Kanton Aargau den Gemeinden entgegen. Die Wasserversorger bekommen etwas mehr Freiheiten bei der Problembewältigung. Sie müssen nur Massnahmen umsetzen, «die mit ihren bestehenden Anlagen möglich sind». Denn in der Zeit, in der langwierige und teure Lösungen umgesetzt würden, könnte sich das Problem von selbst gelöst haben. Weil der Einsatz von Chlorothalonil seit Anfang 2020 verboten ist, nimmt die Belastung im Trinkwasser kontinuierlich ab. Wie lange es dauert, bis sämtliche Abbaustoffe verschwunden sind, ist allerdings unklar.
Tut der Kanton einfach nichts und wartet, bis sich das Problem von selbst löst? Kantonschemikerin Alda Breitenmoser betont:
Viel wichtiger sei es, betont Breitenmoser, dass der Einsatz des Pestizids verboten wurde. Und noch eine andere Überlegung spielt dabei eine Rolle: Der Klimawandel. In einigen Teilen des Kantons sinkt aufgrund der zunehmenden Trockenheit der Grundwasserspiegel. Das wird in Zukunft zu einem Problem werden. «Wenn schon für viel Geld neue Leitungen gebaut werden», sagt Breitenmoser, «dann sollten die Folgen des Klimawandels unbedingt berücksichtigt werden.»
Eine vollständige Übersicht über das Ausmass der Pestizid-Belastung im Kanton gibt es nicht. Unter wasserqualitaet.ch finden sich zumindest einige Wasserversorger an einem Ort versammelt. Dort muss der einzelne Wasserversorger angeklickt werden, dann auf Mehr, dann muss man herunterscrollen, um die jeweiligen Chlorothalonil-Werte zu finden.