Zwei Klinik-Mitarbeitende sind beurlaubt und haben Hausverbot: Sie haben Missstände angeprangert und Gallati informiert

Der Chef der Psychiatrischen Dienste Aargau (PDAG) schlug vor zwei Wochen Alarm. Die drei Akutstationen für Erwachsene würden «permanent am Limit laufen» und seien «eigentlich überlastet», sagte Jean-François Andrey in der AZ vom 9. Oktober. Wegen Personalmangels konnten seit Mitte September auf den Akutstationen 11 von 60 Betten nicht mehr betrieben werden. Andrey warnte: «Sollten weitere Leute ausfallen oder abgeworben werden, müssen wir die Bettenzahl weiter reduzieren.»

Das war bisher nicht nötig. Inzwischen können auf den Akutstationen wieder zwei Betten mehr betrieben werden. Andrey betont, dass «die Aufnahme von Notfällen und die Versorgung generell jederzeit sichergestellt» seien

Hinter den Kulissen brodelt es aber weiter. Das zeigen Reaktionen von Psychiatrie-Mitarbeitenden auf die Artikel der AZ. Die Stimmung in der Klinik sei «alles andere als gut», so der Tenor. Auch die Eltern eines psychisch kranken Kindes sagen, sie hätten gespürt, dass die Mitarbeitenden unter «extremem Druck» stünden.

Personal versucht, allen Patienten gerecht zu werden

Eine langjährige Mitarbeiterin sagt, früher sei das Wohl der Patientinnen und Patienten mehr im Vordergrund gestanden. Heute hätten die PDAG zu wenig Personal, das zu viele Patientinnen und Patienten versorgen müsse. «Die Versorgungssicherheit ist gefährdet.» Das Personal versuche, allen Patientinnen und Patienten gerecht zu werden. «Aber oft ist es so, dass ich gerne mehr für die Betroffenen tun würde und es einfach nicht geht. Das ist frustrierend und kaum auszuhalten.»

Eine andere Mitarbeiterin sagt, es komme vor, dass eine diplomierte Pflegefachperson allein mit einer Fachangestellten Gesundheit zusammenarbeite und dies zum Teil auf akut geführten Stationen. «Das kann gefährlich werden.» Es sei auch schon vorgekommen, dass niemand in der Klinik für eine 1:1-Betreuung von Patientinnen und Patienten aufzutreiben war. Manchmal konnten nicht einmal mehr externe Personalvermittlungsfirmen helfen, da alle verfügbaren Mitarbeitenden bereits in den PDAG im Einsatz waren. Wegen der Arbeitsbedingungen gebe es immer wieder Mitarbeitende, die kündigen.

Die beiden Mitarbeiterinnen möchten anonym bleiben. Sie befürchten Konsequenzen, wenn ihr Arbeitgeber erfahren würde, dass sie mit einer Journalistin in Kontakt stehen.

Personal hat immer wieder auf Probleme hingewiesen

Laut Recherchen der AZ haben die PDAG kürzlich zwei leitende Mitarbeitende der Akutstationen der Erwachsenenklinik beurlaubt und ihnen ein Hausverbot erteilt. Der Grund: Sie haben Ende September zusammen mit anderen Pflegefachpersonen in einem Brief an Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati Missstände angeprangert und sehen die Versorgungssicherheit in Gefahr. Seither sind die beiden an ihrem Arbeitsplatz nicht mehr erwünscht.

CEO Jean-François Andrey hat im Gespräch mit der AZ vorletzte Woche den Brief an Gallati erwähnt und gesagt, er bedaure, dass die Pflegefachpersonen nicht zuerst an die zuständigen Behandlungsverantwortlichen gelangt seien.

Die Mitarbeiterinnen hingegen sagen, das Personal habe «seit Jahren versucht, die Geschäftsleitung auf Probleme, beispielsweise den tiefen Personalschlüssel, aufmerksam zu machen». Aber sie fühlten sich weder gehört noch ernstgenommen. Es fehle gegenüber dem Personal an Wertschätzung.

So reagiert der PDAG-Chef

Auf Anfrage der AZ äussert sich PDAG-Chef Andrey nicht zu den Gründen für die Beurlaubung der beiden Mitarbeitenden. Er sagt auch nicht, wer diese angeordnet hat oder wie lange sie dauert. «Zu personellen Angelegenheiten äussern wir uns nicht in den Medien», teilt er knapp mit.

Ausführlicher ist hingegen seine allgemeine Stellungnahme (siehe Box). Er erwähnt den «breiten Massnahmen-Mix», den die PDAG in den letzten Jahren umgesetzt haben und der laufend angepasst und ergänzt werde, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Er führt aus, die Prozesse und die Qualität in der ganzen Institution würden laufend überprüft. «Wenn Schwierigkeiten angezeigt werden, werden diese selbstverständlich ernst genommen und darauf reagiert.»

Die Stellungnahme von Klinikchef Jean-François Andrey im Wortlaut

«Zu personellen Angelegenheiten äussern wir uns nicht in den Medien.

Fachkräftemangel ist im Schweizer Gesundheitswesen kein neues Phänomen. Um dem entgegenzuwirken, haben die PDAG in den letzten Jahren bereits einen breiten Massnahmen-Mix umgesetzt. Der sich verschärfende Fachkräftemangel macht es nötig, dass dieser Mix laufend angepasst und ergänzt wird. Daran arbeitet unter anderem eine breit abgestützte Taskforce mit Vertreterinnen und Vertretern aus Pflege, Ärzteschaft, Human Ressources und Personalkommission. Wir vertrauen darauf, dass die internen Gefässe genutzt werden und auf konstruktives Mitarbeiten. Auch ist uns wichtig, eine korrekte externe Untersuchung zu gewährleisten, um die Erkenntnisse daraus gut nutzen zu können.

Trotz Belastung der Akutstationen in der Erwachsenenpsychiatrie ist die Aufnahme von Notfällen und die Versorgung generell jederzeit sichergestellt. Das ist unser Auftrag, für den sich die 1400 Mitarbeitenden der PDAG jeden Tag engagieren. Man muss auch die Relationen im Auge behalten: Die PDAG haben insgesamt 462 Betten. Davon können aktuell neun nicht genutzt werden (zwei der ursprünglich elf stehen zwischenzeitlich wieder zur Verfügung).

Die Medizin und die Psychiatrie im Besonderen sind Bereiche, die streng geregelt sind und entsprechend überwacht. Zum Beispiel bei freiheitsbeschränkenden Massnahmen durch das Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, in der Forensik durch das europäische und nationale Komitee zur Verhütung von Folter, generell durch diverse Behandlungsleitlinien etc. Die Prozesse und die Qualität werden in der ganzen Institution laufend überprüft: Messungen von Qualitätsdaten (z. B. ANQ, POC 18), Messung von Patienten-, Mitarbeitenden- und Zuweisendenzufriedenheit oder im Umfang des gelebten EFQM oder IKS-Systems. Und natürlich bestehen intern auch etablierte Strukturen, Prozesse und Verantwortlichkeiten. Wenn Schwierigkeiten angezeigt werden, werden diese selbstverständlich ernst genommen und darauf reagiert.»

Berufsverband findet den Brief an Gallati «vollkommen richtig»

Erik Grossenbacher, Co-Leiter der Geschäftsstelle des Berufsverbands für Pflegefachpersonal SBK Aargau-Solothurn, erfährt von der AZ von der Beurlaubung der beiden Mitarbeitenden. Er sagt: «Dass eine Klinik aus diesem Grund Mitarbeitende beurlaubt und ihnen Hausverbot erteilt, habe ich noch nie erlebt.»

Dass sich die Mitarbeitenden schon länger wehren und die Geschäftsleitung auf Missstände hingewiesen haben, bestätigt Grossenbacher. Deshalb findet er es «vollkommen richtig», dass sich das Pflegepersonal in einem Brief an den zuständigen Regierungsrat gewandt hat. «Wenn die Pflegefachpersonen zum Schluss kommen, dass die Sicherheit der Patientinnen und Patienten nicht mehr gewährleistet ist, müssen sie etwas tun.»

Den Brief an den Gesundheitsdirektor sieht Grossenbacher auch als Zeichen dafür, dass sich das Personal von der Geschäftsleitung nicht gehört fühlt. «Wären die Mitarbeitenden mit ihrem Anliegen ernst genommen worden, hätte es den Brief an den Regierungsrat womöglich gar nie gebraucht.» Im Gegenteil, so Grossenbacher: «Möglicherweise hätte man gemeinsam eine Lösung gefunden oder hätte gemeinsam auf den Kanton zugehen können.» Mit dem Brief hätten die Mitarbeitenden ja nicht einfach möglichst viel Wirbel machen und den Arbeitgeber anschwärzen wollen. «Es ging ihnen darum, auf Missstände hinzuweisen.»

Ende Januar liegt das externe Gutachten vor

Wie es um die Versorgungssicherheit auf den drei Akutstationen für Erwachsene steht, interessiert auch den Verwaltungsrat der PDAG. Ende August hat er ein externes Gutachten in Auftrag gegeben. Das beauftragte Unternehmen soll unter anderem die Struktur und Prozesse, die Kommunikation und Dienstorganisation sowie die Eskalationsrichtlinien und das Eskalationsverhalten auf den drei Akutstationen der Erwachsenenpsychiatrie untersuchen.

Verwaltungsratspräsident Kurt Aeberhard hofft, dass die Untersuchung mögliche Optimierungen aufzeigt. «Insbesondere wie die qualitativ hochstehende Versorgung längerfristig gewährleistet werden kann.» Er rechnet damit, dass der Bericht bis Ende Januar 2022 vorliegt.