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«Ich glaube an das, was ich mache»: Ein mächtiger Solothurner Gewerkschafter in Brüssel

«Ich glaube an das, was ich mache»: Ein mächtiger Solothurner Gewerkschafter in Brüssel

Giorgio Tuti aus Langendorf kandidiert für eine zweite Amtsperiode als oberster europäischer Bahngewerkschafter. Damit vertritt er 700’000 Bähnler – und Bähnlerinnen. Dass er die Frauen fördern will, sei keine Effekthascherei.

Olivia Folly

Er will weitere vier Jahre regelmässig nach Brüssel fahren: Giorgio Tuti am Hauptbahnhof in Solothurn. 

Corinne Glanzmann

Für den höchsten Schweizer Eisenbahngewerkschafter ist es eigentlich nur ein Nebenamt, aber eines mit grosser Tragweite. Als Präsident der Eisenbahnsektion der europäischen Transportarbeiter Föderation ETF mit Sitz in Brüssel führt Giorgio Tuti 83 Gewerkschaften aus 37 europäischen Ländern. Zusammen sind sie für 700’000 Eisenbahnerinnen und Eisenbahner in Europa zuständig. Auch die Schweiz als Nicht-EU-Land ist mit an Bord.

Dass er als Schweizer das Präsidium innehabe, sei ein Vorteil: «Die Schweiz gilt in der EU in Sachen Eisenbahn als Vorzeigeland. Als Präsident einer Schweizer Eisenbahngewerkschaft gelte ich als glaubwürdig», sagt Tuti, der hauptberuflich Präsident der Schweizer Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV ist.

Eisenbahnunternehmen setzen auf die Frauen

Als der Solothurner vor vier Jahren das Amt als oberster europäischer Bahngewerkschafter übernahm, hatte er ein klares Ziel. Er wollte den Dialog der Sozialpartner in der EU wieder in Gang setzen. Gelinge das nicht, dann werde er seinen Sessel nach der vierjährigen Amtszeit wieder räumen, kündigte er an. «Ich sagte das öffentlich, um mich selbst unter Druck zu setzen», erklärt der 57-Jährige.

Jetzt, vier Jahre später, kann er mit gutem Gewissen nochmals antreten. Unter seiner Führung haben die Sozialpartner ein Abkommen unterzeichnet, welches sie verpflichtet, mit gezielten Massnahmen den Frauenanteil in den europäischen Eisenbahnunternehmungen zu erhöhen – das sogenannte «Women in Rail»-Abkommen. «Darauf bin ich schon etwas stolz. Das letzte Mal, dass ein Vertrag in diesem Rahmen zustande kam, war vor 15 Jahren», sagt der Langendörfer.

Dass mehr Frauen bei der Eisenbahn arbeiten sollen, hat nichts mit Effekthascherei zu tun, sondern ist vielmehr eine Notwendigkeit. Aufgrund der Alterspyramide werden in den nächsten 10 bis 15 Jahren europaweit 40 Prozent der Bähnlerinnen und Bähnler ersetzt werden müssen, sagt Giorgio Tuti. «Das schaffen wir nur, wenn wir Frauen für den Eisenbahnsektor gewinnen können.»

Giorgio Tuti, der in Gerlafingen aufgewachsen ist, gilt als Vollblutgewerkschafter. Seit über 35 Jahren kämpft er für die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ganz von ungefähr kommt dieser Drang nach Gerechtigkeit nicht. Er erzählt:

«Ich stamme aus einer italienischen Arbeiterfamilie. Politik, Migration, Gewerkschaften und Gerechtigkeit waren bei uns am Mittagstisch ein Dauerthema.»

Sein Vater und seine Grosseltern arbeiteten bei der Von Roll in Gerlafingen, seine Mutter machte Heimarbeit.

Schwarzenbach-Initiative war prägend

Auch die Diskussion um die sogenannte Schwarzenbach-Initiative Anfang der 70er-Jahre hatte Einfluss auf seinen beruflichen Werdegang. Die Initiative des Zürcher Nationalrats James Schwarzenbach hatte zum Ziel, den Ausländeranteil in der Schweiz auf 10 Prozent zu begrenzen. Wäre die Initiative angenommen worden, hätten 350’000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Koffer packen und nach Hause fahren müssen – also auch Giorgio Tutis Familie.

Am Abstimmungstag war die Stimmung zu Hause in Gerlafingen angespannt. Tuti war damals erst sechs Jahre alt, erinnert sich aber noch gut an diesen Tag: «Ich sass vor unserem Schwarz-Weiss-Fernseher und hatte Angst, dass ich mich am nächsten Tag von all meinen Freunden verabschieden muss, sollte dieser Mann mit der schwarzen Brille mit seiner Initiative gewinnen. Das hat mich stark geprägt».

Überzeugung Gutes zu tun: die tägliche Motivation

Inzwischen hat der Vater von zwei erwachsenen Töchtern fast sein halbes Leben der Gewerkschaftsarbeit gewidmet. 20 Jahre davon bei der Schweizer Eisenbahngewerkschaft SEV. Seit 12 Jahren ist er auch deren Präsident.

Am 8. Dezember stellt sich Giorgio Tuti zur Wiederwahl für sein Nebenamt als höchster europäischer Bahngewerkschafter, um sich auch auf europäischer Ebene unter anderem gegen Lohndumping, für faire Arbeitsbedingungen und für einheitliche Ausbildungen einzusetzen. Bei all seinem beruflichen Engagement bleibt ihm nicht allzu viel Freizeit. Beschweren will er sich aber nicht: «Ich finde immer wieder mal Zeit, um mit dem Velo Richtung Weissenstein zu fahren oder um mich mit meinen langjährigen Freunden zu treffen.»

Und sowieso hat die Arbeit in seinem Leben einen grossen Stellenwert, denn er ist überzeugt, dass die Welt ohne Gewerkschaften anders aussehen würde: «Ich glaube an das, was ich mache. Deshalb bin ich auch nach all den Jahren noch hoch motiviert.»