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Nach Auslagerung der stationären Plätze: Noch hat die Solothurner Kinder- und Jugendpsychiatrie einige Baustellen

«Dass wir nun eine Tagesklinik haben, ist ein Glück.» Der Satz rutscht Anne-Catherine von Orelli geradezu heraus. Als hätten die Emotionen kurz die Oberhand gewonnen. Darum passt der Tonfall so gar nicht zur Art und Weise, wie sie sonst redet.

Die Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie hat die seltene Eigenschaft, zu bejahen, dass sie eine Frage verstanden hat. Darüber nachzudenken. Und erst dann zu antworten. Ruhig und überlegt.

Anne-Catherine von Orelli. Chefärztin der Solothurner Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Ausser eben bei diesem Satz. «Dass wir nun eine Tagesklinik haben, ist ein Glück.» Sie ergänzt: «Sie kam sicher zum richtigen Zeitpunkt.»

Corona hinterlässt überall seine Spuren. Leider auch bei der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Zustände wie Schlaflosigkeit, Depression oder Hoffnungslosigkeit seien vergangenen Winter deutlich häufiger aufgetreten, sagt von Orelli. Auch haben sich vermehrt Kinder und Jugendliche mit Essstörungen, Ängsten oder Lebensüberdrussgedanken bei ihnen gemeldet.

Oft haben die Symptome verschiedene Ursachen. Die Pandemie ist nun dazugekommen. Von Orelli: «Ich habe das Gefühl, das Fass ist schneller voll.»

Was dazu kommt: Das Ganze dauert schon so lange.

«Als alles runtergefahren wurde, haben das noch viele ertragen.»

Doch dann wurden viele Kinder mit Unsicherheiten konfrontiert: Wie geht es weiter? Verliere ich meine Freunde? Verliere ich den Anschluss in der Schule oder Lehre? «Diese Ungewissheit spüren viele. Und das schlägt auf die Psyche.»

Allerdings: Wie stark der Anstieg der Kinder und Jugendlichen, die Hilfe brauchen, nur saisonal bedingt ist, ist noch unklar. Denn im Sommer hat sich die Situation entspannt. Und nun, wie jeden Winter, spitzt sie sich wieder zu.

Was hingegen klar ist: Seit knapp einem Jahr hat der Kanton Solothurn eine Tagesklinik. Das sind acht zusätzliche Plätze, die es vorher nicht gab. Und diese Klinik ist voll. Die Wartezeiten betragen rund sechs Wochen.

Klinikeinweisung ist per se eine grosse Hürde

Vergangenes Jahr kam es zum Knall. Die Solothurner Spitäler AG soH, der die Kinder- und Jugendpsychiatrie angehängt ist, gab bekannt: Das stationäre Angebot wird ausgelagert. Die Klinik mit 18 Betten wird geschlossen, Notfälle werden neu in Bern oder Basel untergebracht.

Die Gründe: Personalknappheit zum einen. Immer komplexere Krankheitsbilder, um die zu behandeln die Klinik in Solothurn schlicht zu klein war, zum anderen.

Gab es seither nicht Kritik von Eltern, weil sie ihre Kinder nach Bern oder Basel bringen müssen? Doch, sagt von Orelli. Aber: «Eine Klinikeinweisung ist per se eine grosse Hürde, auch für Eltern. Ich mache die Erfahrung: Wenn der Bedarf wirklich da ist, dann wird das Angebot auch in Anspruch genommen.»

Auch von der Politik gabs Kritik an diesem Schritt – vor allem daran, wie er kommuniziert wurde. Doch mittlerweile ist Ruhe eingekehrt. Das dürfte auch damit zu tun haben, dass die soH ihr Versprechen eingelöst hat: Das ambulante Angebot wurde ausgebaut.

Da ist zum einen die neue Tagesklinik. Sie ist ein Mittelding. Sie richtet sich an Kinder und Jugendliche, die mehr brauchen als eine wöchentliche Therapiestunde. Denen es allerdings auch nicht so schlecht geht, dass sie gleich stationär behandelt werden müssten.

Oftmals würden sie Kinder mit mehreren Symptomen dort aufnehmen, sagt von Orelli: Eines mit sozialer Ängstlichkeit und Depression, zum Beispiel. Oder Zwangssymptome und Aufmerksamkeitsstörungen kombiniert. Und oftmals hätten die Kinder zuvor Schwierigkeiten im schulischen Alltag. Tagsüber kommen sie in die Klinik und nehmen parallel zum Schulunterricht an Behandlungen teil. Und abends und übers Wochenende können sie nach Hause.

Tagesklinik kann stationäres Angebot teilweise ersetzen

Ein Ziel der Strategie, das ambulante Angebot ausbauen, war es, mehr Kinder niederschwelliger behandeln zu können. Damit es gar nicht so weit kommt, dass sie einen stationären Platz brauchen. Ob man das geschafft hat, lässt sich praktisch nicht messen. Der Prozess sei zudem erst gerade angelaufen, betont von Orelli. Man müsse zuerst noch weitere Erfahrungen sammeln.

Ausserdem: «Wegen der Pandemie ist es schwierig, die frühere und jetzige Situation miteinander zu vergleichen.» Doch einen Anhaltspunkt gibt es: Manche Kinder, die nun die Tagesklinik besuchen, hätte man früher stationär behandelt, ist von Orelli überzeugt:

«Ich glaube nach wie vor: Die Tagesklinik und das aufsuchende Angebot auszubauen, ist Gold wert.»

Das aufsuchende Angebot ist die zweite grössere Neuerung im Angebot der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Im Oktober wurde es lanciert. Aus vier Fachpersonen besteht das Team aktuell, später soll es noch wachsen. Sie besuchen die Familien bei ihnen zu Hause und arbeiten dort, im vertrauten Umfeld, mit den Kindern und Eltern.

Das Angebot richtet sich ebenfalls an Kinder, für die die ambulante Betreuung nicht ganz ausreicht. Oder für die es schwierig ist, umzusetzen, was mit den Fachleuten im Ambulatorium besprochen wurde.

Das richtige Personal zu finden, ist anspruchsvoll

Ganz praktisch wird zu Hause angeschaut: welche Situationen führen zu Problemen? Welche Rolle spielen dabei die Umgebung und die alltäglichen Reize? Und was kann getan werden, um den Alltag zu erleichtern? Dabei wird auch das bestehende Helfersystem involviert. Sozialarbeiter zum Beispiel. Oder die Schule.

Auf diese Art und Weise mit Kindern zu arbeiten, ist relativ neu. Aber das aufsuchende Angebot ist am Kommen. Auch in anderen Kantonen. Doch in Solothurn steckt das Projekt noch in Kinderschuhen.

Eine Schwierigkeit: Die richtigen Leute zu finden. Denn dieser Job ist besonders anspruchsvoll. Im Ambulatorium können die Fachleute ihre Vorgesetzten problemlos um Hilfe fragen. Und sie können sich tagsüber untereinander austauschen und aushelfen. Bei den Familien zu Hause sind sie allein – in teilweise hochkomplexen Situationen. «Wir wollen Sorge tragen, dass wir unsere Therapeuten gut unterstützen. Damit sie die Patienten bestmöglich behandeln können.»

Die Schweiz ist mitten in einer weiteren Coronawelle. Auch die kalte Jahreszeit ist schon voll da. Die Zahl von Kindern und Jugendlichen, die Hilfe brauchen, dürfte in den nächsten Wochen steigen. Ist man bereit dafür? «Ja», sagt von Orelli. «Wir sind bereit für das, was noch kommt.» Da ist er wieder, ihr gewohnter Tonfall. Ruhig und überlegt.